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Was Krisen sind und warum wir sie brauchen

Was sind Krisen? 

Häufig bezeichnet "Krise" ein Ereignis, das wir als Unterbrechung eines sonst geregelten oder als ungewollte Veränderung eines erwünschten Zustandes empfinden. Nimmt man jedoch das Empfinden weg, bleibt zunächst bloß Ereignis zurück - d.h. nicht das Ereignis ist an sich eine Krise, sondern erst durch unsere Empfindung wird aus jenem zunächst bloß geschehenden Ereignis eine Krise. 

 

Bereits hieran zeigt sich, dass wir an unseren Bewusstseinszustand müssen, wenn wir eine Krise wirklich meistern wollen, d.h. wie wir jenes Ereignis bewerten und entsprechend empfinden: Denn selbst wenn man den äußeren ungewollten Zustand wieder überwinden kann, so bleibt im Inneren doch jene Betrachtungsweise, die uns das Ereignis erst als Krise hat wahrnehmen lassen. Kaum wird es ein vergleichbares Ereignis geben, werden wir uns also bei gleichbleibender inneren Betrachtungsweise wieder mit einer Krise konfrontiert finden. Ergebnis: Die tatsächliche Überwindung einer Krise erfordert einen bewusstseinsmäßigen Wandel. 

 

Warum wird also Ereignis x als Krise wahrgenommen:

Unterbrechung eines sonst geregelten Ablaufs: Die Welt und damit die Natur funktioniert nach bestimmten Gesetzen, angefangen von Ursache-Wirkung, so auch der Mensch samt seines natürlichen, sozialen und persönlichen Daseins. Entsprechend liegt es in unserer Natur, dass wir Verständnis für gesetzmäßige Dinge haben, selbst wenn sie negative Wirkngen beinhalten - wichtig ist bloß die Einsicht in die Gesetzmäßigkeit.

Nun müssen wir zwischen strukturellen oder notwendigen Gesetzen und bloß relativen (z.B. identitätsmäßige, lebensabschnittabhängige, wunschmäßige, usw.) unterscheiden -  zu ersteren gehört, dass eine Beständigkeit der nichtgöttlichen Existenz die Unbeständigkeit ist. Die Frage, die man sich also stellen muss: Unterbricht X tatsächlich die strukturellen Gesetzmäßigkeiten des Seins oder bloß z.B. die meiner Vorstellungen? In den Gesetzen der Welt gibt es keine Fehler oder Ungereimtheiten, wie Leibniz schon ausführlich demonstriert: die Welt ist bestmöglich, wie sie ist. Schaut man auf x - wie z.B. ein Erdbeben - aus einer Sicht unabhängig vom Betroffenen, etwa einer naturwissenschaftlichen, wird aus einer Naturkatastrophe plötzlich ein ganz natürlicher und lebensnotwendiger Prozess. Das Problem liegt in dem Bewusstsein, mit dem wir der Welt begegnen: wir erwarten Vollkommenheit - ist die Welt oder sind wir denn vollkommen, also unbedingt? Wir fordern Unversehrtheit für unsere Liebsten - sind sie denn keine endlichen Wesen und somit folgerichtig verletzlich? Andersgesagt: ist Ereignis x wirklich eine Krise, oder wird es erst zu einer solchen, weil mein Luftschloss in der Wirklichkeit wirkungslos verfliegt? Krisen bedeuten also eine Prüfung, ob und wie sehr wir Wirklichkeit aushalten können. Und erst die Konfrontation mit der Wirklichkeit erlaubt den passenden Umgang. 

 

Vielmehr: der Mensch braucht die Krise als Korrektiv, da sie ihm zeigt, dass es eine Disharmonie zwischen der subjektiven Betrachtungsweise und der subjektunabhängigen Wirklichkeit gibt. Sie lässt ihn die eigene Verletzlichkeit und Wesentlichkeit unausweichlich erfahren, was wiederum notwendig zur Freiheit ist: nur Selbsterkenntnis macht frei, da eine verzerrte Sicht auf sich zwangsläufig eine verzerrte Sicht auf das Mögliche bedeutet. Und damit kommen wir zum Eintritt einer ungewollten Veränderung: Es ist der eigene Unwille, sich nach der Wirklichkeit zu richten, statt jene nach dem gewohnheitsmäßigen Befinden zu formen. Es gibt also nicht nur erkenntnismäßige Hindernisse, sondern auch oder gerade aus dem Ego erwachsend-willentliche. Denn der Mensch will mehr sein, als er ist; sich einbilden, was er auch hat oder anderen gibt, habe er sich völlig eigenständig verdient. Dabei ist der Mensch zwar nie mehr als ein abhängiges und beschenktes Wesen und kann dennoch gestalten, wenn er in Übereinstimmung mit der Wirklichkeit auf sich selbst und die Welt schaut. Denn wer die Dinge an sich erkennt, kann sie auch ihnen gemäß behandeln, also aktiv handeln. Wer sich selbst erkennt, kann sich selbst bestimmen und verwirklichen, statt eine Identität von Außen zu übernehmen oder geblendet werden von Begehren und Sehnsüchten im Inneren. Genau das unterscheidet Freiheit von Willkür: zwischen tatsächlich aus der Natur der Dinge gegebenen Möglichkeiten auch gegen Widerstände selbstbestimmt zu wählen. Doch dafür ist es eben erforderlich, die Dinge so sehen zu können und zu wollen, wie sie sind. 

 

Was sind also Krisen? 

Krisen bezeichnen die Disharmonie zwischen subjektiver Betrachtungsweise und objektiver Wirklichkeit und daher die Möglichkeit, zuvor verborgene aber nichtsdestrotrotz fehlerhafte Irrtümlichkeiten oder Begehrlichkeiten in uns zu erkennen und an ihnen zu arbeiten. Ignoriert man sie, kann es fatale Folgen haben, bis hin zu einem Zustand der völligen Empfindungslosigkeit. Wer also sich in einer Krise befindet, kann dankbar sein - der Sinn für Wirklichkeit und Unwirklichkeit ist noch funktionstüchtig. Bloß, der Mensch muss sich entscheiden: will er in der Wirklichkeit oder im Schein leben? Entkommen kann er der Frage nicht, denn beide Wege sind lebenswirklich wirksam.