In diesem Text soll es nicht um die Frage nach der Wirklichkeit Gottes gehen, sondern der Wirkung der Idee Gottes auf das menschliche Bewusstsein. Es gibt nämlich einen Zusammenhang zwischen unserem erstarrten Zeitgeist (bzw. der Disharmonie zwischen Zeitgeist und den Problemen der Zeit) und der Verbannung der Gottesidee aus unserer Lebenswirklichkeit. Oder warum es seit dreihundert Jahren keinen neuen Kant gegeben hat, obwohl die Welt eine andere geworden ist. Religiöse Gesellschaften sind eingeschlossen; denn es geht nicht um einen Begriff, sondern die Idee Gottes.
Einigen wir uns auf zunächst bestimmte Grundannahmen:
1. Was der Mensch auch ist – er ist ein relatives also bedingtes Wesen: alles, womit wir in Berührung kommen, beeinflusst uns; nichts können wir aus dem Nichts, sondern wir brauchen Eindruck, Hilfsmittel und Übung.
2. Ob Körper oder Seele - wir werden, was wir regelmäßig tun; denn womit wir ständig in Verbindung stehen, das hinterlässt Spuren und vertreibt durch die Regelmäßigkeit nach und nach, was ihm widerstrebt. Wenn wir also regelmäßig mit Feststehendem in Verbindung stehen, wird unser Bewusstsein in dem feststehen, wo wir gerade sind. Anders gesagt: Stillstand. Stillstand bedeutet Kritikunfähigkeit und Verständnisunfähigkeit: denn um etwas kritisieren oder verstehen zu können, muss ich es hinterfragen, d.h. von verschiedenen Perspektiven betrachten können. Ich muss mich also bewegen, statt stillzustehen.
3. Begriffe sind feststehend. Denn mit dem Begriff wird beansprucht, dass die wesentlichen Bedeutungsinhalte von etwas mit einem Wort aufgegriffen werden. Der Besitz der Begriffs „Demokratie“ oder „Freiheit“ mag also wesentliche Eigenschaften in der Theorie aufgreifen, allerdings genügt er nicht, um in eine demokratische Wirklichkeit überzugehen. Denn die Wirklichkeit steht niemals still, sondern ist geprägt von stetigem Wandel, Ereignissen und Umbrüchen. Wir brauchen also etwas das die Brücke zwischen Feststehendem (Begriff) und Wandelhaftem (Wirklichkeit) schlägt. Hier kommt das Denken ins Spiel, wie das Boot auf einem ständig bewegten Meer.
4. Das Denken kann verschiedene Perspektiven einnehmen, unterschiedliche Ansätze durchdenken, usw. Es ist also in Bewegung. Passenderweise bedeutet Idee auch nichts zu erfassen, greifen o.ä. – sondern allenfalls ein Erscheinungsbild oder ein Orientierungspunkt, über den erst gestiegen werden muss. Eine Idee zu denken bedeutet stetig weiterzusteigen, sonst wäre es bloß einen Begriff lautlos zu wiederholen. Und Steigen = Fortbewegen vom derzeitigen Punkt, den Standpunkt meines Ichs, seine Bedürfnisse und Wünsche eingeschlossen; sogar abstrahieren, d.h. auf eine Metaebene zu steigen. Wiederholen ist im Kreisdrehen, am selben Punkt oder der selben Ebene stillstehend. Anders: Man sieht einen oder mehrere Bäume, aber nicht den Wald.
( Denken ist also nicht "intellektuell" oder "wissenschaftlich" gemeint; eine ideenlose Wissenschaft der (Fach)Begriffe, ist eine Wissenschaft, in der nicht gedacht wird).
Doch der Mensch ist relativ, d.h. er kann nichts einfach so, aus dem Nichts. Und so ist auch das wirklichkeitsfähige Denken nicht voraussetzungslos, sondern es braucht immer einen Bezugspunkt, der selbst nicht stillsteht, um zwischen feststehenden Begriffen und einer ständig wandelnden Wirklichkeit vermitteln zu können. Haben wir einen solchen nicht, denken wir nicht wirklich: Wir geben Begriffe oder Theorien wieder, aber wir denken nicht, sondern wir folgern allenfalls aus ihnen, folgen also bereits Feststehendem und bleiben bei ihm stehen. Konkrete Konsequenz: Wir stellen eine Kluft zwischen unseren Theorien (sei es Rechtsextremismus = Randerscheinung, junge Menschen = uninteressiert an (irrelevant für) Politik, der Individualismus macht glücklich oder die Weltpolitik richtet sich frei nach dem Willen der USA und ihrer Verbündeten) und der Realität fest, bleiben aber immer bei unseren Theorien stehen, statt sie zu hinterfragen oder gar zu überwinden, weil unser Bewusstsein erstarrt ist in Begriffen, statt sich durch das Denken in Bewegung zu setzen.
Damit kommen wir zu Gott.
Der Begriff „Gott“ bezeichnet etwas Absolutes, d.i. unbedingt und unendlich: Unbedingt bedeutet, nichts ist Ihm gleich, verwandt oder gar ähnlich. Deshalb heißt es Gott transzendiert, d.h. übersteigt jegliches: Er ist rein in Seinem Selbstsein: Gott ist bloß Er selbst und hat all die Eigenschaften – wie allmächtig, allwissend – kraft seines Selbstseins. Sie gibt es nicht mit ihm, sondern bloß im Verhältnis zu anderen Dingen (Allmacht = vollkommene Macht über alles; Allwissenheit = vollkommenes Wissen über alles; usw.). Die Eigenschaften gibt es demnach nur, wenn es nicht-Gott Seiendes gibt; Gott aber, wenn es nichts als Ihn gibt. Wenn Gott also reines Selbstsein ist und alles Seiende nicht-Gott, ist Gott immer radikal Anderes als was ist oder ausgesagt wird.
Allerdings sind Begriffe feststehend; denn damit wird beansprucht, dass die wesentlichen Bedeutungsinhalte von etwas mit einem Wort aufgegriffen werden. Gottes Wesen ist jedoch rein Gott selbst, und Gott ist unbedingt und unendlich, radikal Anderes. Folgerichtig kann er nicht gegriffen werden, und somit bedeutet jeder Gottesbegriff zwangsläufig einen Fehlgriff: ich begreife höchstens Gott in einer Beziehung (etwa als den Urheber der Freiheit, Strafenden oder Vergebenden eines Menschen), aber jene Beziehung ist nicht Gott. Gilt folglich für den religiösen Menschen: wer seine Gottes Beziehung auf feststehenden Begriffen aufbaut, der hat eine Beziehung zu jenen Begriffen und folgt ihnen, aber nicht Gott? Nicht Thema dieses Textes.
Der Mensch ist jedoch nicht auf die Wiedergabe von Begriffen beschränkt: wir können denken. Wir können nicht Gott ausdrücken oder erfassen, aber ihm nachfolgen, indem wir Gottes Übersteigen (Transzendieren) nach-denken. Gott ist folglich nicht erfassbar, weshalb der Begriff richtige Eigenschaften benennen („unbedingt“) aber nicht als Bedeutungsgehalt enthalten kann; aber in der Idee sind sie enthalten, denn Idee beansprucht bloß ein Orientierungspunkt zu sein. Gott ist also in der Idee nach-denkbar.
Ein menschliches Bewusstsein nun, das nicht den Begriff „Gott“ kennt sondern regelmäßig mit der Idee denkt, wird zwangsläufig den Begriff, also den zum Scheitern verurteilten Versuch einer Fixierung oder Feststellung Gottes übersteigen. Wo er dann landet, ist nicht Thema dieses Beitrages. Es genügt folgendes:
Dieses Übersteigung von Feststellungen macht etwas mit dem menschlichen Bewusstsein. Wir sind relative Wesen, d.h. die regelmäßige Berührung mit Dingen prägt regelmäßig entsprechend – wenn wir ständig mit Festehendem in Berührung sind, stehen wir still. Wenn wir jedoch stetig einem fortwährend Übersteigenden nachdenken, also selbst zu übersteigen beginnen, dann sind wir in Bewegung, d.h. frei von den derzeitigen Verhältnissen. Und ganz wichtig: wir übersteigen uns selbst, werden also frei vom jenen Ich, das verstrickt ist in jene Verhältnisse, seien es begriffliche, familiäre oder materielle. Hieran zeigt sich, warum so viele Menschen "Gott" sagen und doch ihre Lebenswirklichkeit immer abhängig von ihrem eigenen Ich sehen. Sie hegen den Begriff, aber nicht die Idee, und daher übersteigen sie nicht die psychische, begriffliche und politische Abhängigkeit vom Zustand der Verhältnisse. Es ist natürlich auch angenehmer: denn die Idee Gottes zwingt ins Ungewisse, während der Begriff Sicherheit gibt. Entsprechend fordert das Denken Tapferkeit.
Ergebnis: Die Idee Gottes bedingt ein übersteigungsfähiges menschliches Bewusstsein, da das regelmäßige Nachdenken über die Allübersteigung zwar nicht zu einer eigenen Allübersteigung, aber doch ständigen Übersteigung führt. Und das genügt, um der Geschichte gegenüber Denk- und Handlungsmacht zu entwickeln.