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Waren die Nürnberger Prozesse ein Fehler?

Wie leicht der Faschismus auf seinem globalen Vormarsch Brandmauern überwindet oder bereits zu zerstören beginnt, macht sprachlos. Denn man berücksichtige, dass durch die heutigen Möglichkeiten weitaus weniger verborgen bleibt, als es beim letzten Mal der Fall war. Der Faschismus zeigt sich also gewissermaßen unverhüllt. 

 

Man kann es mit der Qualität seiner Waffen erklären - ich glaube, es ist die Schwäche derer seiner scheinbaren Gegner. Wir tun immer so, als sei die NS-Zeit beispiellos - dabei ist in Wahrheit unsere Zeit beispiellos. Denn nicht nur Deutschland, die Welt weiß durch unzählige Dokumentationen, Berichte, Bücher, Vorträge, Filme usw. Die Frage wie konnten sie nur...? richtet sich dabei nicht nur an die Mörder, sondern auch an die praktisch teilnahmslosen Zuschauer. 

 

Und dennoch wird der Faschismus wieder zur Alternative einer brodelnden Wut, die wieder in blanker Zerstörung münden wird.    Totalitarismus bedeutet bloße Zerstörung. Er kennt keine Ideologie; seine Diener verlängern allenfalls ihr Leben, bevor auch sie aufgefressen werden. Und vielleicht ist das die Ironie, dass das Zeitalter der Technologie erst die totale Zerstörung möglich macht - denn wenn erst einmal solarbetriebene KI die Kriegsführung übernimmt, dann braucht der Totalitarismus nicht mehr den denkenden Urheber. Ab jenem Zeitpunkt kann unermüdlich zerstört werden, solange wie die Sonne scheint. Die KI funktioniert bloß, statt zu denken, d.h. wo das reine Funktionieren keinen Sinn ergibt, wird sie sich folgerichtig zerstören. 

 

Und das bringt mich zu einer Frage:

Während Hannah Arendt die Dämonisierung des Bösen demaskiert, wirft Adorno mit Blick auf die NS-Zeit die unangenehme Frage auf, ob wir zu Tätern werden können.

Kann ich ein Täter werden? 

Schaue ich mir die Täter an, versetze ich mich in ihre Lage. Denn Menschen wie Hitler gab es immer; bloß nicht den Zeitgeist, in welchem ein Hitler fruchten konnte. Er war kein Verführer der Massen; kein gerissener Täuscher, so wenig, wie Trump einer ist. Die Saat fiel bloß auf fruchtbaren Boden. Jede Wahl ist eine Entscheidung. 

 

Gibt es wesentliche Unterschiede zwischen einer Person aus dem Jahr 1933 und mir? Vielleicht müssen wir uns eingestehen: Nein. Als wir, als ich in der Corona Zeit plötzlich auf mich selbst geworfen war, da bemerkte ich, dass "ich" nicht viel fasst. Als die Energiekrise, die Machtkrise des weißen Mannes und die Demokratiekrise mit aller Wucht meine Lebenswirklichkeit nicht nur erreicht sondern zu verändern begonnen hat, da bemerkte ich, dass auch das angebotene "wir" nichts fasst, was über das materielle hinausgeht. 

 

Ich merkte, dass "ich" nicht viel besitzt. 

Oder vielleicht, dass der Boden all der Zerstreuungen und Besitzungen dieses "Ichs" wacklig ist. 

Wenn man diesen nun wegzieht, oder droht wegzuziehen - und das wird garantiert passieren, denn die Kriege und Krisen werden die liberale Wohlstandsgesellschaft noch viel härter treffen -, was könnte mich abhalten, Täter zu werden? 

 

Ich glaube, wir haben die Chance vertan, uns dieser Frage zu stellen. Deshalb verstehen wir Adorno, das Milgram Experiment oder belletristische Umgangsweisen (Beispiel die Wohlgesinnten) nicht bewusst. Wir nehmen sie war, aber wir verstehen nicht. Wir können nicht mehr universal sein. Das Problem begann schon am Anfang: Mit den Nürnberger Prozessen haben wir die Chance vertan, wirklich aufarbeiten zu können. Denn da bekam das Böse ein konkretes Gesicht, genauso wie die Opfer eine konkrete Identität bekamen: die führenden Nazis und die Juden. Genau das gleiche ist mit Gott als dem absoluten Guten und dem Teufel als dem absolute Schlechten: Durch die Entmenschlichung des Guten und des Bösen, bzw. ihre Ent-gewöhnlichung nehme ich mich aus der Verantwortung des für mich Gewöhnlichen selbst schwerwiegenden Handelns oder der folgerichtigen Reue: indem ich Täter und Opfer abhängig von der Identität anstelle der Handlungen mache, muss ich nicht mehr neu reflektieren. Nicht nur die Deutschen konnten sich im Zuge der Nürnberger Prozesse von der Frage befreien, indem sie jemanden bekamen auf den sie mit dem Finger zeigen konnten, sondern die ganze Welt. Entsprechend hat die deutsche Gesellschaft auch aufgearbeitet: sie hat gelernt, auf einen anderen Täter und ein anderes Opfer mit dem Finger zu zeigen. Daher nimmt der Verweis auf "historische Schuld" uns auch in Wahrheit gar nicht in Verantwortung. Schlimmer noch: wir befreien uns von der gegenwärtigen Handlungsverantwortung und laden somit eine gegenwärtige Schuld auf uns, indem wir jemand anderes als Sündenbock heranziehen. Der Verweis der "historischen Schuld" an einem historischen Verbrechen ist somit kein Aufruf zum aktiven Handeln, sondern die Verzierung einer passiven Unbetroffenheit angesichts gegenwärtiger Schuld. Schließlich brauche ich nicht mehr denken: Historisieren nimmt einer Sache ihre lebenswirkliche Bindung und Relevanz: historisiere ich religiöse Gebote werden sie unwirksam. Identifizieren macht mich abstraktionsunfähig: sobald das Böse und das Gute ein Gesicht bekommen, sehe ich nicht mehr die Prinzipien sondern bloß konkrete und bestimmte Täter und Opfer - andere eben nicht. In beiden Fällen werde ich unfähig zu denken. 

 

Seitdem wir nun auf andere Täter und Opfer zeigen, zeigen drei Finger auf uns selbst: Der Finger der Angst um eigene Opfer, der Finger der Verzweiflung nach Zugehörigkeit eines entwurzelten Individuums, der Finger der Gier des unmetaphysischen und damit entfesselten Egoismus. Ein Finger, der Daumen, liegt über diesen dreien. Er ist der Finger der Gleichgültigkeit des ideallosen Materialismus: er kann sich überall einreihen. 

 

Drei Finger zeigen auf uns, wir aber sehen nur einen fortzeigenden. Denn wir haben gelernt, auf andere Täter und andere Opfer zu weisen. Wir sind allenfalls Zuschauer der Aufarbeitung anderer, statt selbst aufgearbeitet zu haben. 

Wir haben gelernt, bei der Täterfrage wegzuschauen. Und vielleicht auch überhaupt, vielleicht zählt die Selbstreflexion dabei zu den notwendigen Kollateralschäden. Wir lehren Platon, Kant und Adorno - aber unser eigenes Leben bleibt unberührt, wir reden über aber sind keine Philosophen. Wir haben die Demokratie übernommen, statt Demokraten zu sein. 

Der Zuschauer kennt die Handlung, aber er ist kein Teil von ihr. Sobald der Film vorbei ist, ist es auch seine Teilhabe. 

Und so war es auch mit den Nürnberger Prozessen - kaum waren sie vorbei, war es auch die Teilhabe an der Aufarbeitung.