Jede Äußerung ist eine nach Außen gerichtete Offenlegung von etwas innerlich Verborgenem. Es ist also nicht die Entdeckung von etwas in der Außenwelt, sondern es wird etwas sichtbar gemacht, was im Inneren des Äußernden liegt. In Bezug auf das gute Leben bedeutet dies jedoch nicht zwangsläufig, dass eine bloß persönlich-subjektive Meinung von Person A der Person B transparent gemacht wird. Dazu muss gefragt werden, was es bedeutet, sich zum guten Leben zu äußern. Hier ein paar Ebenen:
1. Die Frage nach dem guten Leben bedeutet Selbsterkenntnis. Menschen treffen Entscheidungen, statt instinktiv zu reagieren. Selbst in Momenten, wo wir meinen es wäre intuitiv oder ohne große Überlegungen, finden doch unterbewusste Evaluationsprozesse statt, die abhängig von unseren vergangenen Prägungen, Entscheidungen und Erfahrungen sind. Genau wie wir das für wirklich halten, wovon wir uns praktisch am meisten bewegen lassen, lassen wir uns aber auch von dem bewegen, was wir für wirklich halten. Auch wie wir Dinge erfahren - ob z.B. bestimmte Übel als Unglück - ist also zu einem wesentlichen Teil nicht selbstverständlich, sondern hängt von uns ab. Verzweiflung wird nicht von Ereignissen, sondern unseren Aussichten auf Bewältigung hervorgerufen. Zentral sind dabei Vorannahmen, ohne die unser Bewusstsein nicht auskommt (s.u.). Das gute Leben gehört zu jenen, denn abhängig davon, wie ich ein gutes Leben definiere, werde ich Ereignisse etc. anders betrachten und entsprechend erfahren. Auch der Erfahrung wohnt also eine gewisse Folgerichtigkeit inne. Denn manchmal bringt sie dabei etwas zutage, dessen ich mir nicht bewusst war, d.i. wie ich wirklich zu einer Sache stehe, welche Erwartungen ich hege, usw. Sich zum guten Leben äußern, ist demnach Selbstoffenlegung.
2. Die Frage ist eng verknüpft an die Fragen «Was bin ich?» und «Woher komme ich?». Zu ersterem, weil wir Geschehnisse im Verhältnis zu unserem Selbstbild bewerten/abwägen/usw. Zu letzterem, weil alles, was wir uns selbst zu- oder absprechen, nur dann selbst unter schweren praktischen Bedingungen wirksam bleiben kann, wenn es substanziell untermauert ist, sodass wir tatsächlich davon überzeugt sein können. Daher sollten wir nicht unterbewusste Besetzungen durch Erziehung, Bildung usw. auf diese Fragen erdulden, sondern müssen aktiv auf sie fragend antworten. Sokrates’ Argument, dass Unrechtleiden für den Menschen nützlicher (!) und besser ist als Unrechttun, kann nur dann unter mir praktisch schwerwiegenden Umständen (wie Hunger) wirksam sein, wenn ich jenes Menschenbild mit einem entsprechenden Bild vom Ursprung des Seins eine Substanz verleihen kann. Es also für wirklich halte, und nicht bloß gutbürgerliche Formel. Die Frage nach dem guten Leben nun ist daran geknüpft, weil ich daran mein eigenes unterbewusst wirksames Menschen- und Ursprungsbild feststellen kann: Denn je nachdem, wie ich «Mensch» und «Ursprung des Seins» definiere, kommt ein anderes Ergebnis für «Gut» und «Leben» heraus. Also ist die Äußerung meiner Vorstellung vom guten Leben auch immer eine Offenlegung meines unterbewussten Mensch- und Ursprungsbildes - oder eines Widerspruchs zwischen Vorstellung und Grundannahme.
3. Die Frage nach dem guten Leben ist nicht nur theoretische Selbsterkenntnis, sondern auch praktische Selbstöffnung. Eine Offenlegung nach Außen führt immer zu einer Reaktion. Wenn man also nicht einfach sein Verständnis vor seine Wahrnehmung usw stellen, sondern es beiseiteschieben und die Reaktion hören will, müsste die Offenlegung eine aufrichtige Frage sein. An der Antwort lässt sich die eigene Offenlegung prüfen, und zwar nicht nur in einem Gespräch mit einem anderen Menschen, sondern mit dem Leben selbst: Wenn ich etwa erfahre, dass von mir als Unglück verstandene und entsprechend erfahrene Übel natürliche Bedingungen des Lebens sind, dann kann ich anhand dieses erfahrungsmäßigen Korrektivs meine Vorstellung hinterfragen und erweitern. Erfahrung ist also Prüfstein – auch das Leid -, nicht Beschränkung. Wenn «ich» nicht nur «persönliches Ego» bezeichnet, sondern auch «Mensch», dann kann diese erfahrene Kluft zwischen persönlicher Vorstellung und Bedingungen des Menschseins (conditio humana) zu Überbrückungsversuchen führen. Dazu gehört auch die Hinterfragung und Prüfung der Güter, mit denen ich Glück oder Unglück verbinde. Unglück steht schließlich nicht auf Dingen geschrieben, sondern ich bewerte x als Übel, assoziiere Übel mit Unglück und folgere x=Unglück. Ob meine Erkenntnisversuche erfolgreich sind oder nicht – in jedem Fall bedeutet bereits die Erkenntnis der Kluft eine negative Einsicht und damit eine Öffnung meines Bewusstseins für die unbekannte Wirklichkeit. Denn zwischen Theorie und Praxis, Denken und Erfahrung tut sich eine Mitte auf, in der ich nicht feststehen, die ich aber durchstreifen kann, wenn ich fragend äußere (gäbe es die Mitte nicht, könnte ich nicht zwischen den einzelnen Bereichen wechseln). Dieses Durchstreifen wird mein Bewusstsein dahingehend prägen, als dass jedes Losziehen ein Loslassen jeder weiteren Vorstellung bedeutet, die ich vor mich und die Wirklichkeit stelle.
Wie würde ich mich also zum guten Leben äußern? Fragend.