Vor zehn Jahren dachte ich, mich für einen Lebensweg entschieden zu haben; doch ich merke, ich entscheide mich erst jetzt und muss es fortwährend tun.
Die Erfahrung ist eine wichtige Lehrmeisterin, um die Bedeutung des Wissens zu begreifen und es zu verwirklichen. Denn nur wenn ich spüre, was es bedeutet, etwas zu wissen und mich dann immer noch dafür entscheide, auch wenn es vielleicht unangenehme praktische Konsequenzen hat, erst dann ist es eine freie und willentliche Entscheidung, und deshalb verwirkliche ich dieses Wissen erst in diesem Moment. Also: Erst weiß ich, dann begreife ich, und mit der freien Entscheidung verwirkliche ich. Denn Freiheit bedeutet, die ,,Kluft zwischen Idee und Ausführung“ (Kant) mit vollstem Bewusstsein der Konsequenzen willentlich zu überbrücken.
Was heißt das konkret?
Wenn man sich für einen Weg entscheidet, dann ist das an jedem Anfang zunächst eine theoretische Entscheidung. D.h. Zwischen den damit verbundenen Werten und Prinzipien und der eigenen Persönlichkeit und dem eigenen Wesen ist eine Kluft. So sehr man auch denkt ,,ich habe verstanden, was diese Entscheidung bedeutet“, es ist noch rein theoretisch. Dann beginnt man die Bedeutung lebenswirklich zu erfahren. Und wenn man die innere Entscheidung gegen alle äußeren Geschehnisse beibehält (Platons Definition von Tapferkeit), dann beginnt jener Weg, einen ihm gemäß zu formen. Denn jede Erneuerung der eigenen Entscheidung für diesen Weg bedeutet eine Ablehnung der Alternativen. Für die eigene Persönlichkeit und das eigene Wesen bedeutet dies eine Annäherung an das eine und eine Distanzierung von dem anderen.
Anders gesagt: Wir werden geformt. Bei einem Weg, wo es eine Harmonie zwischen Innerem und Äußerem gibt, ist es ein zum Vorschein bringen; wo Disharmonie, da Verformung. Das Problem ist aber, dass die Disharmonie einen nicht loslässt. Und entsprechend spürt man jedes Mal, wenn sich willentlich gegen das entschieden wird, was man innerlich als das Gebotene erkennt, wie noch etwas in einem wegbricht. Irgendwann ist aus einer Kluft ein tiefer Abgrund geworden, und es bleibt nichts als sich an den Rand zu setzen, die Knie anzuziehen und mit leerem Blick zu starren: Es ist das eigene Werk.
Auch bei dem Weg der Harmonie braucht man sich keine Illusionen zu machen. Es bestätigt sich nämlich, worin sich Sokrates und der Qurʿān einig sind: Erleichterung und Erschwernis, Angenehmes und Mühe wechseln sich ab. Denn jede Formung tut weh, beginnend damit, wenn Verformungen zurechtgerückt werden.
Noch ein Tag der willentlich-freien Entscheidung. Was wenn es ein Irrtum war, höre ich sie schon fragen, wie kann man so hochmütig sein, sich einzubilden, gefunden zu haben?
Ich habe mich entschieden. Und auf diesem Weg gibt es nur ein Unbedingtes, nur ein Absolutes. Deshalb verstecke ich meine Feigheit nicht hinter der Möglichkeit des Irrtums oder einer Scheindemut. Davon abgesehen: das Risiko des Irrtums als Preis für die Freiheit, die Mündigkeit, ist leicht zu tragen, andersherum nicht.