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Gestehen wir es ein, bevor es zu spät ist: der postmoderne Materialismus ist gescheitert und der Faschismus ist mit voller Härte im Anmarsch

 

Wir konnten es damals nicht verhindern. Aber ihr könnt es heute heißt es in dem offenen Brief von Holocaust Überlebenden im Vorfeld der Europawahl 2024. Dieser Satz bereitet Unbehagen, bedenkt man, dass er von Menschen stammt, die die deutsche Gesellschaft und den europäischen Kontext vor, während und nach der nationalsozialistischen Machtübernahme erlebten. Und wir müssen bedenken, dass in der Gegenwart alle nennenswerten Parteien inklusive der rechten stets sich von jenem System distanzieren. Dennoch diese Warnung. 

Was also kündigt ein solch beispiellos zerstörerisches und mörderisches Regime an?  

Häufig werden Wahlergebnisse, das Bekanntwerden rechter Aktivitäten innerhalb von Staatsorganen (wie der Polizei) oder politische Vorgänge (wie die Verfassungsänderungspläne in Italien) als alarmierend bezeichnet. Aus meiner Sicht sind nicht solche Geschehnisse sondern die Umgangsweise beängstigend, und gerade mit Blick auf diese wird die Warnung der Holocaust Überlebenden noch eindringlicher. Denn, wenngleich die bisherigen Diagnosen- „die Menschen fühlen sich wirtschaftlich abgehängt“ oder „[…] werden nicht genügend informiert“ – und Gegenmaßnahmen – beginnend mit Verharmlosung („Protestwahl“) und der Aneignung rechter Rhetorik – fruchtlos bleiben, bleiben Politik, Medien und die „Mitte der Gesellschaft“ hartnäckig bei gescheiterten Diagnosen und Lösungen. Auch die Ergebnisse der Europawahl werden mit den gleichen Stichworten erklärt: Bezahlbarer Wohnraum und Migration, die Wahl der französischen und deutschen Rechten oder italienischen Neofaschisten sei aus Protest bzw. nachdem die anderen es nicht gerichtet hätten, würde man es nun mit ihnen probieren. Das ist eine Verharmlosung, statt zu sagen „wer Neofaschisten wählt, ist ein Neofaschist“ wird die Offenheit für menschenverachtende und exklusivistische Ideologien durch nichtideologische Beweggründe salonfähig gemacht. Denn wem es um unschuldige Anliegen geht, wie bezahlbaren Wohnraum, mit dem kann man reden und gleichzeitig so tun, als würden Werte wie „Demokratie“ oder „Gleichheit“ mehr als Lippenbekenntnisse sein. Mit einem als Neofaschisten klassifizierten ginge das nicht. Außerdem lassen sich mit ersteren auch Kompromisse eingehen; denn sie seien ja nicht gegen Migranten aus fremdenfeindlichen Gründen sondern aus unschuldigen, lebenspraktischen Sorgen. So wird nicht schleichend sondern sehenden Auges (!) rechte Rhetorik angeeignet, was notwendigerweise zur Aneignung rechter Handlungsweisen führt. 

Sprechen wir es endlich aus: Der Faschismus ist mit voller Härte im Anmarsch. Als die italienische Ministerpräsidentin Meloni vergangenes Jahr ihre Verfassungsänderungspläne ankündigte, nahm man es entweder kaum wahr oder nicht ernst; jetzt sind die Pläne dabei Realität zu werden und damit dem System Mussolini – dessen Bilder in italienischen Regierungsgebäuden hängen und eine Statue im Haus des Präsidenten des Senats Ignazio La Russa steht – ein ganzes Stück näher gerückt (Randbemerkung: der Faschismus übernahm 1922 mit Mussolini den italienischen Staat genau 100 Jahre vor der derzeitigen Ministerpräsidentin Meloni elf Jahre vor den Nazis in Deutschland). Die Liste ist lang und bekannt, daher überspringe ich das Auflisten alarmierender Ereignisse. 

Es gibt sicherlich nicht wenige, die insgeheim von faschistischen und rassistischen Ideologien angesprochen werden. Der Politikwissenschaftler Daniel Marwecki spricht in diesem Zusammenhang im Fall der uneingeschränkten Unterstützung Deutschlands für Israel trotz der rechtsextremen Rassisten in der Regierung und völkerrechtswidrigen Zerstörung Gazas von einem Ersatznationalismus, den die Deutschen über die Israelis stellvertretend ausleben. Doch wie steht es um die wissenschaftlichen Experten, Medien und Zivilgesellschaft? 

Meine These lautet: Der postmoderne Mitteleuropäer kann gar nicht verstehen, was da passiert. Denn, wenn wir uns das Menschenbild anschauen, das in Schulen, öffentlichen Diskursen, Forschung und Politik vorherrscht, so sehen wir den utilitaristisch-materialistischen Menschen, d.i. 1. Mensch sucht nur nach Profitmaximierung und vermeidet Profitminimierung, 2. Mensch = rationales Triebwesen, d.h. mithilfe seiner Vernunft sucht er nach Wegen der bestmöglichen Triebbefriedigung  und bietet man ihm diese (in Form von Thailand- und Mallorca-Reisen genauso wie Eigenheim oder Bingewatching) ist er zufrieden. Daher kann das europäische Mittel der Nachkriegszeit gegen den Faschismus gar nicht das von Kant – Moral und Selbstbestimmung – sein, sondern es ist die Möglichkeit, seinen materialistisch-nutzenorientierten Egoismus ausleben zu dürfen, d.i. postmoderner Kapitalismus. Als mit dem Zerfall der kommunistischen Sowjetunion 1989 der Sieg des Kapitalismus ausgerufen wurde, ist die Idee dieses postmodernen Menschen zur ideellen Selbstverständlichkeit geworden, das zum Paradigma erhoben als Brille von Wissenschaft und Gesellschaft, Politik und Medien jegliches ausgeblendet hat, was sich nicht unter diesem Paradigma verstehen ließ: Mittel zur Verwestlichung Chinas oder Russlands? Wirtschaftlicher Profit. Denn „Wandel durch Annäherung“ bedeutet keine kulturelle oder ideelle, sondern wirtschaftliche Verflechtung. Mittel zur Kontrolle des Nahen Ostens? Wirtschaftlicher Profit. Mittel zur Einhegung rechter Tendenzen in der Gesellschaft? Sozialstaat + Vermeidung der Teilung des Profits mit anderen. Diese materialistische Brille ist natürlich keineswegs neu. Wie wir wissen, hat die Bundesrepublik lange vor den USA Israel trotz der eigenen Geschichte zunächst bloß heimlich mit Waffenlieferungen unterstützt – was 1964 bekannt wurde – aus Furcht vor einer Verschlechterung der wirtschaftlichen Beziehungen zu arabischen Staaten. 

Bloß gibt es eine Kluft zwischen ideeller Selbstverständlichkeit und der Wirklichkeit. Iran und China sind sehr gute Beispiele: im ersten Fall glaubte man es durch völlige wirtschaftliche Schwächung wieder auf westlichen Kurs zu bringen; im letzteren hoffte man, durch wirtschaftliche Bereicherung es für die westliche Sache zu gewinnen. Heute ist China dabei die gesamte Welt neu zu ordnen; der Iran ist nicht nur Mitglied der BRICS-Staaten, sondern leistet einen großen Beitrag zu deren Entwicklung einer neuen Währung und war zentral für Russlands Umgehung der westlichen Sanktionen. Doch weil die Postmoderne selbst eine Ideologie ist, wird die Brille nicht abgesetzt, trotz der Offensichtlichkeit der Kluft. 

Worauf ich hinaus will: die materialistische Blindheit für ideelle Bedürfnisse des Menschen, das Fehlen von jeglichem Verständnisvermögen abseits wirtschaftlicher Kategorien, bedeutet Unverständnis internationaler und nationaler Geschehnisse mit fatalen Folgen. Die Jugend wählt nicht rechts, weil sie bezahlbaren Wohnraum sucht. Sondern sie wählt rechts, weil die postmoderne Gesellschaft ihr ideell nichts zu bieten hat. Denn – traurig aber wahr – die einzigen, die über Jahre geduldig und unbeirrbar entgegen allen äußeren Drucks für ihre Ideen arbeiten, sind rechts- und linksextreme. Dagegen helfen keine oberflächlichen und nichtssagenden Tiktok Videos opportunistischer und idealloser Politiker_innen. Auch keine Gesetze, Institutionen oder Demonstrationen gegen rechts, da man ideologischen Weltanschauungen langfristig nur mit wahren Weltanschauungen begegnen kann. Die Covid Pandemie und damit Unterbrechung des Alltags hat nahezu zwangsweise die von der postmodernen Sozialisation hinterlassene, innere Leere bewusst werden lassen. Die Jugend sieht jeden Tag aufs Neue, dass Werte wie Demokratie oder Menschenrechte für die postmoderne Gesellschaft keine Substanz haben, da sie, sobald es um die eigenen wirtschaftlichen Interessen geht, irrelevant für das eigene Handeln werden. Solche Leute können auch morgen mit der AFD marschieren. Juristen, die nicht an die Werte im Grundgesetz glauben, können auch morgen einer Verfassung mit anderen Werten folgen. Die Jugend sieht ebenso, wie der postmoderne Materialismus menschliche Beziehungen zu Interessengemeinschaften verkommen lässt, in der wirtschaftlich unnütze Individuen isolierte Einzelkämpfer sind. Die Gesellschaft sinnentleert also ihre eigenen Sinnangebote, und zurück bleibt bloß der egozentrisch-materialistische Konsummensch. Doch der Mensch ist nicht nur Triebwesen, sondern auch ein geistiges Wesen mit geistigen Bedürfnissen. Der Mensch weiss, dass es eine höhere Realität als sein Ich gibt und sucht sie - wenn nicht das Gute, dann ist es eben das Böse; wenn nicht Gott, dann eben die Nation oder eine Person. Die Jugend wählt die Rechten, weil sie dort ihre geistigen, ideellen Bedürfnisse befriedigt sieht. Und deshalb werden sie auch mitmachen, wenn der Faschismus und Rassismus wieder den Staat wählt und nicht bloß ideell, sondern mit aller Staatsgewalt über das Land rollt. Auch wenn man sich noch so hartnäckig weigert, es wahrzuhaben: Ideale - ob gute oder schlechte - sind stärker als materielle Interessen.

 

Noch ist Zeit, den postmodernen Materialismus - die postmoderne Ideallosigkeit - aufzugeben und endlich Ideale mit Substanz auf die Fahne zu begründen, auf die Fahne zu schreiben, praktisch umzusetzen, kurz zu leben. Das erfordert nicht die Predigt persönlicher Meinungen sondern das furchtlose Finden von universalisierbaren Überzeugungen, d.h. die aufrichtige, freie und diskursive Suche. Mit Hannah Arendt: Politische Freiheit bedeutet den Besitz politischer Tugenden, und dazu gehört die Bereitschaft, das private Ich zu übersteigen und für die Freiheit notfalls zu sterben.