Islam und Demokratiediskurse: Identitätsdiskurse zum Islam und Ostdeutschland spalten und polarisieren die Gesellschaft. Warum ein Volksentscheid über das Grundgesetz als Verfassung der Wendepunkt in einer Zeit der Spaltung zwischen West- und Ostdeutschen, deutschen mit und deutschen ohne Migrationshintergrund, Rechten und Linken sein kann, ja sogar weltweit den Schritt in eine neue Welt initiieren kann.
Auch nach der Europawahl 2024 werden Debatten über Ostdeutsche und Muslime eine Gemeinsamkeit beibehalten (die, wie die Wahl zeigt, die Rechten stärkt statt sie zu schwächen): Es wird diskutiert, warum bei Konflikten oder Enttäuschungen nicht konstruktiv der Diskurs gesucht, ja sogar das Grundgesetz nicht als das Eigene verstanden würde. Der thüringischen Ministerpräsident Bodo Ramelow forderte in diesem Zusammenhang einen Volksentscheid darüber, ob aus dem Grundgesetz eine Verfassung gemacht werden sollte. Indem die neuen Länder sich per Abstimmung die Verfassung selbst geben, statt sie mit der Wiedervereinigung übernommen zu haben, würde das westdeutsche Grundgesetz als deutsche Verfassung empfunden.
Tatsächlich lässt sich dafür argumentieren, dass die Distanz in der Gegenwart zum an sich freiheitlichen Grundgesetz eine reale ist. Beziehen wir dazu den muslimischen Philosophen al-Fārābī (gest. 950) und den jüdischen Mikrobiologen Ludwik Fleck (gest. 1961) ein, dessen „Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache“ die Vorlage für Thomas Kuhns bahnbrechende Wissenschaftstheorie lieferte. Beide trennen knapp tausend Jahre, sie teilen jedoch eine Grundidee: Es gäbe gesellschaftliche Denkkollektive, die den Vorstellungs-, Denk- und Gefühlshorizont der Individuen innerhalb einer Gesellschaft maßgeblich bestimmen. Sie sagen also nicht bloß, dass gesellschaftliche Narrative die Wahrnehmung von Fakten verzerren, sondern wie Individuen überhaupt vorstellen oder fühlen können, würde gesellschaftlich geprägt, indem aus wertneutralen Worten Begriffe mit bestimmten Bedeutungen gemacht werden, d.h. z.B. „Freiheit“ wird nach den einer Gesellschaft charakteristischen Merkmalen geprägt. Alles dem jeweiligen Denkkollektiv Widersprechende würde als fremd klassifiziert und nicht nachvollziehbar abgelehnt. Konsequenz: Innerhalb einer Gesellschaft kommt es nicht notwendigerweise auf Tatsachen-, sondern Werturteile an.
Doch anders als Fleck, gesteht al-Fārābī in seinem “Buch der Buchstaben” (Kitāb al-Ḥurūf) dem Einzelnen zu, aus dieser Fremdprägung ausbrechen zu können. So sehr die Sprache und Gesellschaft das Denken der Einzelnen prägen würden, so wechselseitig seien die Einflüsse: die Gesellschaft sei der Zusammenschluss von Individuen und ihre Verfassung von eben jenen Individuen formuliert und umgesetzt, genauso wie die Sprache aus einem Bedürfnis nach Artikulation heraus entwickelt und somit ihre Begriffe die Innen- und Außenwelt ihrer Sprecher widerspiegeln würde. Nun grenze die Individualität einer Person sie vom Rest ab, sodass es eine Dishamonie zwischen individuellem Innenleben und soziopolitischen Außenwelt geben könne. Wenn die Disharmonie zwischen Fakten und Darstellung, oder die Kluft des individuell Wahrgenommenen/Empfundenen zum verfügbaren sprachlichem Ausdruck zu groß ist, verursache dies eine Distanz zum gesellschaftlichen Angebot. Hier denke man etwa an den Fall, wenn Menschen mit Migrationshintergrund bei Sachthemen zwar durchgängig deutsch sprechen, jedoch bei emotionalen Themen auf nichtdeutsche Ausdrucksweisen ausweichen. Dies bedeutet nicht, dass sie nicht den deutschen Ausdruck “traurig” kennen, sondern schlicht der Begriff “traurig” von einer Gesellschaft geprägt wurde, in der es sie und ihre Kontexte noch gar nicht gab.
Halten wir fest: al-Fārābī zufolge haben wir die Fähigkeit zur individuellen Distanzierung vom Kollektiv. Für eine demokratische Gesellschaft klingt das hervorragend, da sie einerseits gerade die Toleranz für gewaltlose Distanzfähigkeit der Bürgerinnen und Bürger zur öffentlichen Meinung auszeichnet, gleichzeitig die Freiheit zum Andersdenken der Mehrheit die Möglichkeit bietet, scheinbar Selbstverständliches zu überdenken. Nennen wir das eine konstruktive Distanzierung, da hier die Kluft zwischen gesellschaftlicher Selbstverständlichkeit und individueller Abweichung zu überbrücken gesucht wird.
Dann gibt es aber auch eine destruktive Distanzierung, die mit der Abwendung von der Gesellschaft als “den Anderen” beginnt und entweder im Hass oder der Verzweiflung vor “den Feinden” mündet. Hier gilt es also um jeden Preis die Kluft zwischen Innenleben und Außenwelt zum Selbstschutz zu erhalten, da jede Brücke als feindliche Übernahme empfunden wird.
Natürlich gibt es verschiedene Faktoren, die bestimmen, ob eine Person konstruktiv oder destruktiv mit der Kluft umgeht. Für eine Demokratie ist die Glaubwürdigkeit des verfassungskonformen Anspruchs überlebenswichtig. Dazu bedarf es nicht nur des Vertrauens in die Funktionsfähigkeit der Institutionen, sondern auch in den öffentlichen Raum: Es muss einen für alle gleichermaßen zugänglichen Diskursraum geben, in dem die Person bedenkenlos ihre Kluft bemerken, verstehen und frei artikulieren kann. Frei bedeutet nicht willkürlich, d.h. es geht nicht darum, dass jemand alles mögliche sagen kann, sondern zunächst, dass für alle gleiche Bedingungen gelten. Wenn also z.B. seit dem Anschlag in Mannheim in Islambezogenen Debatten gilt, dass ein Argument nicht ungültig wird, nur weil es Rechte nutzen, so gilt auch in Bezug auf die Kriege in Gaza oder der Ukraine, dass Argumente nicht ungültig sind, nur weil die Hamas oder Putin sie ebenfalls ins Feld führen. Das gleiche gilt bei der Frage nach der Verlässlichkeit von Organisationen wie dem Internationalen Gerichtshof: entweder sie sind diskursbestimmende Prüfsteine oder nicht. So auch hinsichtlich der Kriterien der am Diskurs teilnehmenden Experten: Wenn nicht Meinungen sondern Qualifikationen relevant sind, dann muss es ein ausgewogenes Verhältnis von Experten für die eine und für die andere Seite geben. Andernfalls werden die Debatten als Scheindebatten wahrgenommen.
Die naheliegende Frage wäre: führt Deutschland freiheitlich-demokratisch Sachdebatten und gründen unsere Diskurse auf Fakten und nüchterner Analyse, sodass abweichende Positionierungen oder der öffentlichen Meinung widersprechende Fakten im Diskurs frei artikuliert werden können? Mit Verweis auf die Geltung des Grundgesetzes würden wohl viele meinen, dass es selbstverständlich so sei. Wenn wir jedoch al-Fārābī und Fleck folgen, dass sich auch im Geist des 1949 verabschiedeten Grundgesetzes die Erfahrungen, Vorstellungen, Ängste und Denkweisen der westdeutschen Nachkriegsgeneration niederschlagen. Und dies verlängert sich auf die staatlichen Institutionen, die auf dem Boden des Grundgesetzes stehen und den öffentlichen Diskurs. Umgekehrt wurde die westdeutsche Gesellschaft in den folgenden Jahrzehnten durch den Staat mittelbar davon geprägt, Grundgesetz und Denkkollektiv verflechten sich also fortwährend – anders mit den Ostdeutschen und Menschen mit Migrationshintergrund.
Inwiefern kann also ein Volksentscheids helfen? Zunächst würde es nicht eine Abstimmung über Nacht sein, sondern es könnte z.B. eine Frist von drei Jahren gesetzt werden, welche sich in zwei Jahr Vorbereitung und einem Jahr Durchführung von Veranstaltungen, Diskussionsplattformen, usw. teilt. Medien, Politik und Zivilgesellschaftliche Akteure – ob demokratiefreundlich oder -feindlich – würden alles mögliche tun, um die Abstimmung zu ihren Gunsten zu beeinflussen. Wir hätten also auf bundesweit im Öffentlichen wie auch Privaten Veranstaltungen, die normalerweise voneinander isolierte Positionen zusammenbringen würden. Einen Ideenwettbewerb, der durch die anstehende Abstimmung durch die praktische Relevanz verlorenes Vertrauen in die Einflussmöglichkeit wieder aufbauen kann. Was auch rauskäme – im Ergebnis würden sich die Kontexte der gegenwärtigen deutschen Gesellschaft niederschlagen, d.h. es wäre die deutsche Verfassung des Deutschlands der Wiedervereinigung, Einwanderungsgesellschaft und Zeitenwende. Aus Ost- und West- und Migrationsdeutschen würde ein Deutschland. Möglicherweise wird das Zusammenbringen sogar den allgemeinen Horizont des Vorstell- und Denkbaren erweitern, was in einer Welt der Umbrüche weltweit den ersten Schritt in eine wirklich neue Welt bedeuten kann, statt zurück in die Zeit der Identitätskämpfe.