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Kompromissloser Universalismus als Lehre meiner deutschen Geschichte

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Veröffentlicht auf der Online Blog Seite von "der Freitag", 16.11.2023
Kompromissloser Universalismus als Lehre
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Am 07.10.2023 erlitten israelische Zivilisten Gewalt, derzeit leiden palästinensische Zivilisten Gewalt. Die Gemeinsamkeit ist das Gewaltleiden, der Unterschied das Ausmaß. Am 09.10. versuchte ich auf meinem Blog drei Ebenen auszuarbeiten, die eine sachlich-politische Analyse berücksichtigen müsste. Denn ich sehe die Analyse des führenden Politikwissenschaftlers John Mearsheimer geopolitischer Machtverschiebungen und deren regionalen Konsequenzen in den Ereignissen der letzten Jahre bestätigt, aber nicht im öffentlichen Diskurs Deutschlands berücksichtigt. Prompt wurde ich gewarnt, es offline zu stellen, denn Kritik an Israel würde als Antisemitismus abgestempelt – ein „Deutscher mit Migrationshintergrund muslimischen Glaubens“ dürfe nur Solidaritätsbekundung mit Israel und Distanzierung von ,,ungemäßigtem“ Islam bekunden.

 

Dabei ist gerade jetzt ein universales Neudenken dringlich, wie der israelische Philosoph Omri Boehm oder die Autorin Deborah Feldman vorführen. Denn mit dem Ende der unipolaren Weltordnung seit 1989 und ihren lebenswirklich spürbaren Konsequenzen für die Bürger_innen muss das nicht mehr einlösbare Wohlstandsversprechen der Demokratien als Fundament ersetzt werden, wenn die Demokratie fortbestehen soll.  

 

Ein Problem: 

Ich gehöre in die Schublade „Deutscher mit Migrationshintergrund muslimischen Glaubens“. Ersteres bedeutet ,,kein richtiger Deutscher", letzteres ,,Potentieller Gefährder". Wenn im Fernsehen selbstverständlich gesagt wird, ,,gemäßigte Muslime" seien ebenfalls von ein paar Kalifatsfahnen erschüttert, dann impliziert diese Wortwahl, dass das Muslimsein nicht prinzipiell unproblematisch, sondern es nur dem Grade nach ist, wie z.B. ein ,,gemäßigter" Flügel der AFD. Achten Sie darauf: In Talkshows tauchen dunkelhäutige Expert_innen besonders auf, wenn es um Postkolonialismus oder Afrika, die Migrationshintergrunddeutschen muslimischen Glaubens, wenn es um Islam oder Nahost geht. Meist fehlt entweder die ausgewiesene Fachexpertise oder die kritische Bereitschaft zu neuen Impulsen oder gar Visionen. Beim Thema Ukraine habe ich keine Migrationshintergrunddeutsche zur Frage gehört, wie Deutschland sich geostrategisch positionieren sollte. Und damit kommen wir zum Kernproblem, dass Omri Boehm mit seinem „radikalen Universalismus“ angeht: 

 

Wir nehmen uns nicht als Menschen, sondern als Identitätsträger_innen wahr, weshalb wir auch die Außenwelt danach kategorisieren, wahrnehmen und behandeln. Niemand spricht über völkerrechtswidrige Gewaltexzesse, sondern über die Gewalterfahrung derjenigen, denen er oder sie sich identitätsmäßig verwandt oder verpflichtet fühlt. Dieses Thema ist gerade vor dem Hintergrund der deutschen Geschichte relevant, denn wiederholen wir nicht wieder das gleiche Prinzip, nämlich Menschen nicht als Menschen, sondern relativ zu ihren Identitäten zu behandeln und bestimmte sogar als Sonderfälle? Darf Feldmann bei Lanz ausreden, weil sie weitsichtige Thesen hat, oder aufgrund des Stempels „Jüdin“? Schauen wir dazu auf die Biodeutschen und die Migrationshintergrunddeutschen muslimischen Glaubens. 

 

Zunächst ist da das hiesige Verständnis von „deutsch“, das offenbar nicht ins 21. Jahrhundert gefunden hat. Nehmen Sie die Frage, welche Lehren aus dem Nationalsozialismus zu ziehen sind. Was bedeutet es, hinsichtlich „deutsche Geschichte“ nicht die hier in der 4. Generation geborenen jungen Menschen muslimischen Glaubens zu fragen? Vielmehr wird sogar zum Prüfstein der Zugehörigkeit zu Deutschland erhoben, ob historisch-diskursiv gewachsene und Jahrzehnte lang vorausgesetzte Meinungen darüber, welche Lehren zu ziehen seien, bedingungslos angenommen werden. Dazu gehört eine fehlende Differenzierung zwischen einer kompromisslosen Bejahung des Existenzrechts des israelischen Staates – die nicht zur Debatte steht – und einer kompromisslosen Unterstützung all seiner staatlichen Aktivitäten, d.h. ggf. auch Völkerrechtsbruch. Dies wird meist damit erklärt, dass eine deutsche Person sich aufgrund des Holocaust schämen müsse, wenn sie Israel etwas vorzuschreiben suche. Und genau das ist identitäres Denken: Nicht zwei vernünftige Menschen denken miteinander auf dem Boden eines universalen und gemeinsamen Rechts sowie neuer soziopolitischer Kontexte gemeinsam nach, sondern die Diskursteilhabe und der Umgang mit Rechtsbrüchen wird von Identitäten abhängig gemacht. Global vertiefen sich so Gräben zwischen Nationen und Regionen, national zwischen Gesellschaftsteilen, denn doppelte Standards führen zu einem Vertrauensbruch. 

 

Diese Identitätsverhärtung ist ein allgemeines Problem, denn auch die Migrationshintergrunddeutschen muslimischen Glaubens stecken darin fest. Die Palästinenserfrage ist Teil einer Ausgrenzungserfahrung ihrer Migrations- und Integrationsgeschichte, weshalb jene sich auch persönlich so betroffen fühlen. Also gibt es ein spezielles Muslimsein, z.B. als Migrant_in in Deutschland, welches ein entsprechendes, identitäres Denken verursacht? Ich frage deshalb, weil vieles andere nicht so viele Protestwillige, geschweige denn Aufmerksamkeit bekommen hat: Die Verwüstung Jemens durch Saudi-Arabien im Stellvertreterkrieg mit Iran hat zu keinem kollektiven Pilgerfahrt-Boykott geführt, vom Bürgerkrieg in Somalia oder Chinas Genozidpolitik gegen die Uiguren zu schweigen. Was ist mit den desaströsen Umständen, unter denen Flüchtlinge auf der kanarischen Insel El Hierro ankommen, welche jüngst als „neues Lampedusa“ bezeichnet wurde? 

 

Moment – habe ich nicht auch gerade in identitären Schubladen gedacht? Meine Beispiele haben muslimischen Hintergrund, d.h. ich habe die Aufmerksamkeitsbereitschaft von der identitären Zugehörigkeit abhängig gemacht. Dabei heißt es im Koran, dass wer einen Menschen – nicht einen Muslim – töte, die gesamte Menschheit getötet habe (5: 32), d.h. auf dem Boden des Korans müssten Muslime und Muslima gleichen Anteil an jeglicher unrechtmäßigen Leiderfahrung und Menschenrechtsverletzung nehmen. Aber damit dieser vielleicht koranische Auftrag keine Utopie ist, braucht es ein ideelles Fundament, das nur durch ein nüchternes, diskursives und ungemütliches Neudenken gelegt wird.  

 

Deutschland, das Land der Dichter_innen und Denker_innen, wäre ein guter Ausgangspunkt, wie internationale Stimmen wie Pankaj Mishra meinen: Diese Bereitschaft, ggf. rigoros mit der eigenen Geschichte zu brechen und der Grundsatz „Nie wieder!“ treiben die Denkfaulheit aus, und bieten gepaart mit den noch nicht assimilierten oder völlig verprellten Migrationshintergrunddeutschen einen günstigen Rahmen für ein universales Neudenken einer Weltgesellschaft, wie sie Kant erträumt hat. Kompromissloser Universalismus ist die eigentliche Lehre der deutschen Geschichte, wenn wir sie nicht identitär als deutsche, sondern universal als Teil der Menschheitsgeschichte lesen.