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Wer nicht staunt, der nimmt nicht wahr: Mit Maria Zambrano über ein Grundproblem seit Aristoteles

 

Die spanische Philosophin Maria Zambrano (1904-1991) schreibt, dass der Unterschied der Philosophie seit Aristoteles und der Dichtung darin besteht, dass die Philosophie ihren Ursprungszustand verlassen hat: Philosophie und Dichtung sind beide auf die unbestimmbare Wirklichkeit insofern ausgerichtet, als dass sie von ihr ergriffen werden, wie ein die Dunkelheit durchbrechender Blitzschlag. Und wie dieser das Erfasste verbrennt, kann jenes Ergriffenwerden ein Feuer entfachen, mithilfe dessen Zäune verbrannt werden können. Doch während erstere vom anfänglichen Staunen ins Systematisieren verfällt und jene Systeme zu erhalten sucht, erhält und aktualisiert die Dichtung fortwährend jenes anfängliche Staunen.

 

Auf diese Weise sprengt die Dichtung jede Grenze aufs neue, während die Philosophie sich eigenhändig Grenzen setzt und in ihnen festhält. Die Tragödie besteht darin, dass die Philosophie damit blind wird: statt die Wirklichkeit zu sich sprechen zu lassen, wird in jene hineinprojiziert; aus Freiheit wird also Knechtschaft. Doch sie verwirft nicht Philosophie als solche; vielmehr liegt der Schlüssel ihr zufolge in der Verflechtung beider. 

 

Ich füge noch Theologie, Mystik und überhaupt alles, wo gedacht wird hinzu, wie Politische Theorie, bevor ich frage, was bedeutet das? 

 

Systematisieren bedeutet Bestimmungen zu treffen, die miteinander zusammenhängen.

 

Bestimmung bedeutet Festlegung durch Bezeichnung und Einordnung. Werkzeuge der Bestimmung sind die Sprache sowie die gesellschaftlich gesammelten und vermittelten Informationen. Gesellschaftliche Erzählungen, Wissensquellen usw. bestimmen, indem sie die Grenzen eines Rahmens setzen, innerhalb dessen sich bewegt werden kann. Dieser Rahmen ist notwendigerweise fehlbar, weil Gesellschaft nicht Wirklichkeit bedeutet.  

 

Wahrnehmungsmittel sind die Vernunft und die Sinne. Das Problem ist eigentlich nicht, dass unsere Wahrnehmungsmittel fehlbar sind, sondern dass sie innerhalb der Grenzen des fehlbaren Rahmens bleiben, nämlich obigen Werkzeugen der Bestimmung. Ist dagegen der Gegenstand der Wahrnehmung unfehlbar, so wird er auch entsprechend wahrgenommen. Denn X ist nicht unfehlbar, weil es makellos ist, sondern weil es nicht verfehlt werden kann. Tatsächliches Wahrnehmen bedeutet demnach unkontrolliertes Aufnehmen. Andernfalls wird nicht wahr-genommen.  

 

Staunen bedeutet vollständiges Empfänglichsein und damit machtloses Offenstehen in der Wahrnehmung, d.i. Hinterfragen all jener Werkzeuge der Bestimmung durch bloße Wahrnehmung: Nicht ich bestimme, was auf mich zukommt, sondern Jenes bestimmt mich. Und dieses Bestimmtwerden äußert sich im Staunen, weil wir eben nicht wissen, was auf uns zukommt, d.i. wahres Staunen erstarrt, weil es unvorbereitet trifft: Der Staunende ist wie vom Blitz getroffen. Wer nicht staunt, der nimmt demnach nicht tatsächlich wahr. 

 

Der Dichter, nun, bezieht einen dem Staunen vorausgehenden Standpunkt, der die Empfänglichkeit für das Sein garantiert. Und das reicht, denn das Sein ist fortwährend in Bewegung, wie jeder bemerkt, der einen Moment auf einer Wiese stillsteht, denn nie gibt es einen geräuschlosen, also leeren Moment. Er sieht das wahr in der sinnlichen Wahrnehmung. Deshalb kann der Dichter befreien, weil er nur auf das wahr schaut. 

 

Der Philosoph seit Aristoteles bezieht dagegen einen dem Staunen nachfolgenden Standpunkt, wenn er versucht, die Momentaufnahme dauerhaft festzuhalten und durch bestimmende Ausführungen zu verlängern. Was er jedoch in Wahrheit tut, ist, sich selbst auszuführen. Deshalb kann er nicht befreien, weil er auf eine spezielle -nehmung fixiert bleibt. 

 

Wenngleich der wahre Philosoph nicht so ist - s. Sokrates - sondern ein Dichter, der so beschrieben ist wie oben, in Wahrheit der wahre Philosoph ist, ist das Prinzip entscheidend. Denn es lässt sich auf Künstler, Sufis, Theologen, ja eigentlich alles und jeden übertragen, der beansprucht, die eigene Individualität zu übersteigen, und dabei doch nur seine Individualität zu verallgemeinern sucht, wenn nicht sogar zelebriert.  

 

Was Zambrano nicht sieht, ist ein drittes Element, weshalb ihre Synthese unvollständig und entsprechend unwirksam geblieben sein könnte, nämlich die Prophetie. Doch dazu an anderer Stelle mehr.