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Was macht vergangenes in der Gegenwart wirksam? Über unser wirkliches und bewusstseinsmäßiges Verhältnis zur Vergangenheit und Gegenwart

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Die Vergangenheit ist hinderlich, wenn man in ihr verhaftet bleibt; war es eine erfolgreiche, schaut man sehnsüchtig zurück und ist bitter über die Gegenwart; war es eine unglückliche, schaut man traurig zurück und ist melancholisch-sehnsüchtig über die Gegenwart, indem man sich ausmalt, was ohne jene möglich wäre, bzw. was durch sie verloren ist. Und so ist es kaum verwunderlich, dass alle Religionen, Philosophien, sogar Optimierungs- und Selbsthilfeprogramme versuchen, der lähmenden Wirkung der Vergangenheit zuvorzukommen. Die entscheidende Frage ist, was genau die Vergangenheit lähmt und warum sie das tut. Wie bei jeder Erkenntnisbemühung auch, ist als Vorgehensweise empfehlenswert, die den Untersuchungsgegenständen zugrundeliegenden Prinzipien und Grundbegriffe zu untersuchen.  

 

 

Vergangenheit fasst jegliches, das vergangen somit in der Gegenwart faktisch (= Gegebenheiten und Bedingungen der Außenwelt) nicht mehr anwesend ist, d.i. eine Menge von Ereignissen oder Personen, die geschehen sind und nicht mehr stattfinden, bzw. da waren und es nicht mehr sind. Die Vergangenheit ist demnach mit der Ankunft in der Gegenwart abgeschlossen. Daher überbrücken wir die Differenz zwischen Vergangenheit und Gegenwart mit Erinnerungen. Denn die Vergangenheit ist zwar faktisch abgeschlossen; nicht jedoch bewusstseinsmäßig durch die erinnernde Person. Auf diese Weise lässt sich eine Lebensrealität schaffen, die der faktischen Außenwelt widerspricht.  Wir müssen uns bei der Beurteilung zunächst die Frage stellen: Gehört X wirklich der Vergangenheit an (ist es in der Gegenwart anwesend oder vergangen)? Wenn dem so ist, dann sind wir faktisch von X losgelöst. Die Frage ist auch wichtig, weil wir zwischen Ursache/Auslöser/Erscheinung (X) und Wirkung unterscheiden müssen: wenn eine vergangene Person oder ein Geschehen in der Gegenwart wirksame Spuren hinterlassen hat, so sind die Spuren da, nicht aber sie. Ich kann die Spuren nur anhand der Ursachen verstehen, aber es ist unmöglich die Spuren anhand der vergangenen und damit unzugänglichen Personen oder Geschehen zu überwinden. Anders: Statt mich loszulösen, binde ich mich. Und da ist bezeichnend, dass unser Bezug zur Vergangenheit mittels Erinnerung, nicht Wahrnehmung geschieht. Schauen wir uns sie näher an. 

 

 

Erinnerungen sind die nachträgliche und vorstellungsmäßige Rückkehr in faktisch unzugängliches. Sie sind nachträglich, weil sie erst dann möglich sind, wenn der Gegenstand der Erinnerung bereits die Wirklichkeit verlassen hat ; vorstellungsmäßig, weil das Vergangene vor dem geistigen Auge wiederbelebt wird. Denken wir an die Unterscheidung zwischen Ursache und Wirkung: Selbst wenn ich die Spuren in der Gegenwart wahrnehmen kann (etwa Gegenstände, Verhaltensweisen, usw.), nehme ich nur jene Gegenstände oder Verhaltensweisen wahr, nicht jene Person oder jenes Geschehen. Es kommt nicht von ungefähr, dass unterschiedliche Menschen mit gleichen Erfahrungen verschieden umgehen. 

 

 

Vielleicht sagen uns also die Spuren mehr über den Träger von ihnen als den vermeintlichen Täter aus?

Nämlich seine Erwartungshaltung, sein Selbst- und Weltbild, und vor allem ob er erfahrungsmäßig oder erkenntnismäßig auf sich und die Welt schaut. Nehmen wir den Satz „Ich habe Verrat durch viele scheinbar absolut vertrauenswürdige Menschen erfahren und das hat etwas in mir zerbrechen lassen“ und als vermeintliche Spur Vertrauensprobleme, Selbstzweifel, usw. Was war denn vorher in der Person, das nun durch den Verrat zerbrechen konnte? Was lässt eine Person „absolut vertrauenswürdig“ erscheinen? Wohl kaum die Faktenlage - also Erkenntnis -, da Menschen per definitionem relativ sind. Vielmehr ist es die Erfahrung und verzerrte Wahrnehmung, genauso wie sie bestimmen, was jetzt in der Person ist, das nicht zerbrechen konnte. Beispiel: wir sehen unsere eigenen Schwächen aus der Innenperspektive, sehen lauter wundervolle Dinge beim anderen aus der Außenperspektive, ignorieren unser Unvermögen mittels seiner Innenvermögen seine Schwächen zu bemerken und schlussfolgern entsprechend irrtümlich. Was dann wirklich schmerzt, ist nicht das Geschehen selbst (sein Vertrauensbruch), sondern die Disharmonie zwischen der faktischen Wirklichkeit (sein Charakter) und einer ihr widersprechenden Lebensrealität (meine Illusion). Aber wir sind nicht auf jene verzerrte Sicht beschränkt, sonst könnten wir sie nicht bemerken; sie nicht als irrtümlich registrieren und uns an der Disharmonie mit der Wirklichkeit stören. 

 

Möglicherweise sind die Spuren nur deshalb immer noch auf eine destruktive Weise wirksam, weil der Träger die Brucherfahrung nicht erkenntnismäßig sondern erfahrungsmäßig betrachtet? Einfacher: Im Unterbewusstsein herrschen die selben Selbstbilder und Haltungen, oder warum betrachtet er als Verlust, was erkenntnismäßig betrachtet eigentlich ein Gewinn ist, da man doch Ausgangspunkt zur neuen Selbst- und Weltbegegnung hat? Denn dazu sind wir fähig, sonst wären wir gleichgültig über Wirklichkeit und Schein. 

 

 

Damit stellt sich die Frage, was wir als Korrektiv nehmen. Denn unsere Wahl bestimmt, was genau wir vor unserem geistigen Auge sehen und wie wir dies erfahren. Beispiel: Fakten oder Tatsachen, bzw. die Realität dient prinzipiell als Korrektiv oder Prüfstein. Gerade deshalb ist es ratsam, Menschen anhand ihrer Praxis zu messen, sodass man sich nicht durch fremde Selbstinszenierungen oder eigene Anschauungen täuschen lässt.  Nun, diese Funktion kann nur erfüllt werden, wenn auch die richtigen, also dazugehörigen Fakten oder Tatsachen als Prüfstein genommen werden. Dagegen neigen wir häufig dazu, vergangenes im Lichte der aktuellen Realität zu messen (und andersherum). Und entsprechend treffen wir ein Urteil, das im aktuellen Kontext vielleicht zutreffen wäre, jedoch dem vergangenen nicht gerecht wird (und andersherum). Und dies hat nicht einfach ein unsachliches Urteil als Konsequenz, sondern dass wir vergangenes wie etwas aktuelles behandelnd weder unsere Veränderungen sehen, noch die der Außenwelt. Stattdessen schaffen wir eine von der faktischen Wirklichkeit unterschiedene Lebensrealität; statt die Möglichkeiten der Gegenwart zu nutzen, lähmen wir uns mit den Unmöglichkeiten der Vergangenheit. Die Erfahrung bietet also eigentlich den Ausgangspunkt zur Aktualisierung der eigenen Selbst- und Weltsicht, sogar noch grundlegender der eigenen Maßstäbe, sie kann aber nicht bereits die Schlussfolgerung begründen.  

 

 

Und damit beantwortet sich eigentlich, wer was lähmt: Unsere Verhaftung in einem unwirklichen Ich lähmt unser wirkliches Ich, d.i. an die Stelle der befreienden Aktualität tritt die fesselnde Erfahrung. Und deshalb ist Vergangenheit nicht vergangen, weil unser Ausgangspunkt, unser Selbst- und Weltbild nicht vergangen und somit nicht aktuell ist.