· 

Näher als die Halsschlagader - Der Qur'ān und Sokrates

Im Qur'ān heißt es: ,,Wir haben ja den Menschen erschaffen und wissen, was seiner Seele einflüstert, und Wir sind ihm doch näher als seine Halsschlagader" (50: 16). 

 

Philosophische Deutungsversuche: 

In 50: 16 heißt es nicht, dass Gott diesem oder jenem Individuum näher als dessen Halsschlagader sei, sondern dem Menschen näher als seine Halsschlagader; d.h. jedem einzelnen Menschen unabhängig seines Alters oder Geschlechts, dem Bewusstsein, Zugehörigkeit zu irgendeiner Denkweise, oder historischen Zeit. 

 

Mögliche Schlussfolgerungen:

 

1.: Gott ist jedem und jeder Einzelnen gleich nah im Sinne von wesensmäßig. Das "Halsschlagader", also ein Schlüsselpunkt im menschlichen Körper, der über Leben und Tod entscheiden kann, drückt aus: Es geht um eine wesensinnerliche Nähe zwischen Mensch und Gott. Zu Leben = Gott ist am Nächsten. Und zwar von Beginn an; es braucht keinen außerhalb von uns beiden, der diese Nähe erst herstellt, sondern es gilt sie zu entdecken. 

 

2.: Gott ist jeder und jedem Einzelnen am nächsten, d.h. weder meine Blutsverwandtschaft, noch mein Kamerad, Glaubensgenosse, Freund oder irgendeine geistige Persönlichkeit kann näher sein. 

 

3.: Wirkliche Nähe zu Gott besteht in der Innerlichkeit: sobald ich diese Nähe außerhalb von mir suche - sei es in Gegenständen, Menschen, Theorien, Weltanschauungen, Auslegungen, Identitäten -, also mich nach außen kehre, kehre ich mich von Gott weg. Es geht nicht darum, dass ich nicht Hilfsmittel draussen finde, sondern dass ich die Mittel mit dem Ziel verwechsele: So wie der Zustand der Halsschlagader eines anderen unerheblich für mein Leben und Tod ist, ist auch die Gottesnähe eines anderen de facto unerheblich hinsichtlich des Zustands meiner Gottesnähe. 

 

4.: Unter der Bedingung, dass Gott jedem einzelnen Menschen gleich nahe ist und es bei Ihm kein Mehr oder Weniger gibt, ist kein Zeitpunkt Gott näher als ein anderer. Ja sogar: Ich bin Gott im Jahre 2023 genauso nahe wie ein anderer es tausende Jahre zuvor war. 

 

 

In 39: 36 wird rhetorisch gefragt, ob Allāh seinem Diener nicht genügen würde; und anschließend davon erzählt, wie man gegen das offensichtliche Ja dem Einzelnen vor denen, die es außer ihm geben soll, Angst einjagt. Dieses "außer Ihm" meint vielleicht nicht nur falsche Götter, sondern andere Absolutheiten. Und das kann alles mögliche sein: Es kann eine politische oder geistliche Figur sein, es kann der Zeitgeist sein, eine persönliche Bindung oder Zugehörigkeit, es kann sogar Religion als Institution sein. 

 

 

Ich frage mich nun, ob den Gehalt jener Verse jemand besser als Sokrates praktisch mit seiner Lebenspraxis ausdrückt. Denn die sokratische Methode nimmt nur das Absolute, den Gott, als festen Punkt ("Ich weiß, dass ich nicht weiß" und "das weiß nur der Gott"), und bringt alles andere - Theorien, Auslegungen, Denkweisen, Gemeinschaften u.ä. - zum Einsturz, damit der Einzelne nicht folgt sondern entdeckt. 

 

Entscheidend ist dabei, dass dies jeder für sich machen muss; Sokrates füllt die beim Hinterfragen entstandene Leere nicht mit Sokrates, sondern jeder Erkennende müsse selbst erkennen; selbst werden, weil er selbst trägt. Die Stimme des Daimonion, die Sokrates in sich hört, könne jeder hören, wenn er sich nur von den äußeren Abhängigkeiten befreiend hinhört.

 

Und weil Gott genügt, ist Sokrates unwichtig: Er lässt sich weder idealisieren, noch von seinen Schülern bezahlen; weder gibt er die Prinzipien des Guten zum Wohle von irgendetwas auf, dass die Menschen zusätzlich zu Gott brauchen würden; noch fürchtet er Fehler zu begehen, zum Tode verurteilt zu werden oder, was noch viel wichtiger ist, vergessen zu werden. Als die Freunde ihn nach seinen letzten Wünschen fragen, lauten diese nicht, dass sie sich um seine Familie, sein Andenken oder die Verbreitung seiner Ideen kümmern, sondern dass jeder Einzelne für seine Beziehung zum Guten sorgen möge.

 

Kurz: jeder soll "schauen" und  "fortwährend staunen", statt von einem Schauen zu berichten oder bei einer Schau stehen zu bleiben. Denn dies bedeutet, sich vom Angeschauten ab- und dem Anschauenden zuzuwenden.