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Über den Wert der Selbsterkenntnis, Hindernisse und die Gleichmäßigkeit

 

Für Platon, wie auch sämtliche Philosophen der Vormoderne, bedeutet Selbsterkenntnis folgerichtig Erkenntnis der Wirklichkeit. Selbsterkenntnis ist zweifach:

1. Woher stammen eigentlich meine Meinungen, Befürchtungen, Hoffnungen und Ängste? Anders: Hege ich jene, weil sie wahr sind, oder weil ich so geprägt wurde, 

2. Wie verhält es sich wirklich?

 

Das Problem des Menschen ist nicht sein Nichtwissen oder eine korrumpierende Außenwelt. Sondern all das Scheinwissen, das ihm die Sicht versperrt. 

 

Wie wir alle wissen, pflegte Sokrates zur Erkenntnis die dialektische Methode in einer Art, die man als Hebammenkunst bezeichnet, d.h. in einem fragend-erkundigenden Gespräch wird das vermeintliche Wissen darauf geprüft, ob es von außen stammt, oder vom Innern kommt.

Die Lehre ist einfach: Die Seele hat eine vorgeburtliche Existenz, in der sie das höchste Eine schaute. Nun liegt das Eine der gesamten Wirklichkeit zugrunde, d.i. alles, was auf Erden wirklich ist, ist Abbild von metaphysischen Urbildern oder Archetypen. Daher kann Ibn Sīnā es wörtlich meinen, wenn er schreibt, dass in allem, das ist, eine eingeborene Liebe steckt.

 

Platon war bekanntlich gegen das explizite, systematische Verschriftlichen der metaphysischen Lehre. Spekulationen zufolge soll er sie aber mündlich vermittelt haben. In jedem Fall versuchte er das Schauen zu vermitteln, sodass jeder selbst Zugang hat, statt vom Zugang eines anderen sich abhängig machen zu lassen. Vielleicht konnte er es auch nicht schriftlich-systematisch ausdrücken. Mullā Ṣadrā lässt sich vom Qur’an aushelfen und erklärt, jeder Mensch sei wie ein Buch, das von der göttlichen Wirklichkeit enthalte; es genügt also, sein Inneres zu lesen, um die Wirklichkeit zu erkennen.

Denn jene platonischen Urbilder sind die Namen, die Gott Adam gelehrt hat. Und diese Urbilder sind so wirklich, wie ihre Abbilder es sind; alles, was wir sehen, riechen, fühlen und schmecken sind Formen; wenn sie wirklich sind, wie wirklich sind da die Prinzipien, die sie doch nur manifestieren oder reflektieren?

Man denke an das Mondlicht: Es reflektiert nur, deshalb ist sein Licht mangelhaft, so kann es uns zwar Licht bringen, aber keine Wärme. Das vollkommenere Urbild, also das Sonnenlicht, hingegen vermag beides. 

 

 

Wie der Mensch nun Sinne zum Wahrnehmen der physischen Formen besitzt, besitzt er auch einen Sinn für die metaphysischen Prinzipien. Alles, was der Mensch also zu tun braucht, ist in seinem eigenen Buch zu lesen. Und diese Berührung mit dem Wirklichen transformiert ihn: denn das Edle veredelt das Niedrigere, wie Ibn Sīnā schreibt, d.h. das Menschsein wird nicht genichtet, sondern wesensangeglichen: Das menschliche Begehren verschwindet nicht, sondern wird vergoldet; wie eine Fontäne schießt die Lebensfreude hervor, statt einer weltabgewandten Verbitterung ob der vielen Erschwernisse zu weichen, denn die Wirklichkeit ist voller Liebe, und in der Liebe ist Seligkeit.

 

Dazu muss der Mensch aber tiefer graben, den Vorhang der erzogenen, gelehrten, ausgebildeten und gesellschaftlichen Persönlichkeit lüften, d.i. schlicht wesentlich Mensch sein. 

 

Warum tut er es aber nicht? 

Dazu gibt es vielfach Gründe, manche davon: 

1. Essentialisierung vom menschlichen, nicht aber dem Menschsein. Dazu gehört das Geschlecht (wesentlich männlich/weiblich), wie auch die Gesellschaftlichkeit, der jeweilige Zeitgeist oder das Ego. 

2. Die Missetaten der Autoritäten und jener, die es vermeintlich besser wissen, angefangen von den Eltern bis zu den Wissenden. Denn die Offenheit, mit der diesen Menschen begegnet wird, macht derart verletzlich, dass die bewusstseinsmäßigen Wunden uns unterbewusst derart prägen, dass viele scheinbare Selbstverständlichkeiten ganze Existenzen prägen.

3. Selbstverschuldet, weil aus dem ständigen Befolgen der zerstreuuenden Neigungen hinderliche Gewohnheiten und schließlich blendende Standpunkte werden.        

 

 

Wie bedauerlich, denn jeder Mensch birgt die Wirklichkeit auf eine einmalige Weise, somit kann jeder Mensch jedem etwas von der Wirklichkeit zeigen, was nur er zu zeigen vermag. Die Gleichheit der Menschen liegt also in der gleichmäßigen Einzigartigkeit ihrer Kundgaben: Gleichen sie sich ihrem Urbild an, sind sie gleich.

 

So gibt es für Platon kein einseitiges Lehrer-Schüler Verhältnis, sondern nur ein gemeinsames Werden: Die Wirklichkeit ist unendlich, alle wirklichen Dinge einheitlich und jedes Buch einmalig.