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Muḥammad und Sokrates gegen die inneren Götzen: Freiheit, Sinn für Wirklichkeit und Seligkeit liegen im Innern

Vor der Exilzeit in Medina hat der Prophet Muḥammad eine gewisse Zeit in Mekka als Muslim gelebt und gepredigt, ohne dass er die Götzen in der Kaaba angriff. Erst Jahre später, bei seinem Siegeszug in der Stadt sollte er jene Götzen öffentlich zerstören. 

 

 

Warum eigentlich?

Historische Relativisten würden antworten, dass er erst jetzt die Macht dazu hatte, d.h. aus strategischen Gründen wartete er den günstigsten Moment ab.

Ich glaube, dahinter steckt etwas anderes, nämlich dass der Mensch erst seine inneren Götzen zerstören muss, bevor er in der Außenwelt sucht. Denn Freiheit, Sinn für Wirklichkeit und Seligkeit kommen aus dem Inneren, weshalb es auch leichter ist, Wasser zu predigen, doch Wein zu trinken.  Stattdessen muss ein Werdensprozess durchlaufen werden, in dessen Zuge schmerzhafte Prüfungen durchstanden werden müssen. Dabei wird immer eine weitere Götze im Inneren entweder an- oder zerschlagen, so dass auf jede Anstrengung anschließende Erleichterung folgt. Denn die Prüfungen sind schmerzhaft, weil wir die Welt nicht als da sehen, was sie ist, sondern im Flüchtigen verhärten. Nicht die Wirklichkeit wird also erschüttert, sondern unser inneres Konstrukt. Ich möchte es kurz begründen: 

 

 

Freiheit: Nur das Absolute ist unbedingt, d.h. alle relativen Dinge haben keinen Wert an sich, sondern nur einen solchen, den wir ihnen beimessen. Meister Eckhart: Wer alles besitzt, doch sich selbst gelassen hat, hat alles gelassen; wer nichts besitzt doch von sich nicht gelassen hat, der hat nichts gelassen. Unser Unterbewusstsein ist durchsetzt mit scheinbaren Selbstverständlichkeiten, die nicht der Wirklichkeit entstammen, sondern unserer Erziehung, Vertrauten, Gesellschaft, usw. Und es fängt schon da an, was wir glauben zu sein, denn entsprechend bestimmen wir, was wir wollen, brauchen, und hoffen. Ob Gegenstand der Angst, des Begehrens oder sonstiger Abhängigkeit: Alle Macht speist sich einzig und allein aus der Sicht, die jener Mensch auf sich und auf den Nutznießer jener Macht hat.  Die größte Fessel ist deshalb ein illusionäres Selbstbild, so bedeutet Selbsterkenntnis Erleuchtung. Erzählt uns das nicht auch Platons Höhlengleichnis: Die anderen Höhlenbewohner werden nicht von ihren Fesseln gewaltsam in der Höhle gehalten, weshalb sie den Propheten, der sie von jenen befreit, umbringen und bleiben, wo sie sind, statt hinauszuklettern. So schwer ist es auch nicht, schließlich bestehen wir nicht nur aus Irrmeinungen und Gebrechen: wer seine wirklichen Stärken kennt und seine wirklichen Schwächen, ist wie jemand, der seine wirkliche Krankheit genauso wie das wirkliche Heilmittel gefunden hat. Daher kommt Freiheit aus dem Innern, d.i. ein freies Bewusstsein. 

 

 

Sinn für Wirklichkeit: Das Problem des Menschen ist nicht fehlende Wissensquellen, sondern eine verklärte Sicht. Er begegnet nicht den Dingen, wie sie sind, sondern begegnet seinen Vorstellungen von ihnen. Tragischerweise begegnet er auch nicht sich selbst, wie er ist, sondern den Vorstellungen, die er von sich hat. Nun, der Mensch trägt das Objektive in sich, weshalb Sokrates die dialektische Methode (äußere Bedingung) und ein offenes Herz (innere Bedingung) genügen, um vom Scheinwissen zur wesenstransformierenden Erkenntnis zu gelangen. Deshalb ist auch keiner besser als der andere und eigentlich niemand auf einen anderen angewiesen; ein Lehrer muss allenfalls helfen, die Augen zu öffnen, bevor anschließend selbst geschaut wird. Sokrates‘ Spitzname: Hebamme, d.i. Geburtshelfer. Der Schüler bekommt nichts von außen; wie die Mutter trägt er selbst unter dem Herzen. 

 

 

Seligkeit: Die Bereinigung des Inneren bedeutet Selbstwerdung; zu sein, was man ist, bedeutet im Reinen zu sein, dies wiederum Harmonie, und in der Harmonie liegt Schönheit. Der Mensch ist ein liebendes Wesen. Im Reinen zu sein, beruhigt das Herz; die Schönheit zu erblicken, antwortet auf die Sehnsucht der angeborenen Liebe; und die Antwort des Geliebten beglückt, denn es ist schön, geliebt zu werden. So, wie nichts auf der Welt die Unglückseligkeit und den Fall des Ungeliebten und im lieblosen Begehren Verhafteten aufhalten kann, kann nichts die Glückseligkeit und den Aufstieg des Geliebten und Liebenden beenden. 

 

 

Enthoben ist der Innerliche. Und deshalb wird er erwählt, denn das Hässliche kann nur durch Schönheit, das Falsche durch das Wahre, die Dunkelheit durch das Licht, und das Veräußerlichte durch das Verinnerlichende, die Krankheit durch die Gesundheit behoben werden: die äußeren Umstände sind ein Sinnbild der inneren Verfassung.

 

Wer noch im Ich verharrt, kann sich nicht von dessen Fesseln lösen, denn jedes ichmäßige Geben bleibt am Ende eigentlich ein Nehmen.