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Das Einssein und die 1: Was die einfachste Zahl vom Absoluten, der Wirklichkeit und der Ansammlung zeugt

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Das Einssein und die 1: Was die einfachste Zahl vom Absoluten, der Wirklichkeit und der Ansammlung zeugt
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Einssein, Allumfassung und Einsamkeit gehören zueinander, ersteres als Urgrund, mittleres charakterisiert die Beziehung der 1 zu allen übrigen Zahlen und letztes die Wirkung der Einswerdung. 

Dabei können wir wörtlich vorgehen, was auch die Wichtigkeit der Mathematik für vormoderne Philosophen möglicherweise verdeutlicht. Verstehen wir also die Bedeutung des Wortes „Eins“ anhand der Zahl „1“. 

 

Im Verhältnis zur 0 bedeutet die 1 alles, denn wie viele 0en wir auch aneinanderreihen, am Ende bleibt es gleich null. Doch sobald wir eine einzelne 1 an den Anfang setzen, wird aus 000 plötzlich 1000, d.i. aus dreimal null wird plötzlich dreitausend. Null bedeutet Nichts. Das Auftauchen der 1 kann aus Nichts Etwas machen; aus einer Null (0) macht ihr vorhergehen z.B. zehn (10). Die 1 ohne die 0 bleibt 1, ist also niemals nichts. Das in der 1 enthaltene Sein ist demnach unabhängig von dem in der 0 ausgedrückten Nichtsein. 

 

Im Verhältnis zu allen nachfolgenden Zahlen bedeutet die 1 Bedingung. Denn die 1 ist der Anfang jeden Zählens; sie kommt noch vor dem ,,alles“; noch vor dem ,,Im“. Man kann so weit gehen wie man will, zählen und zählen - am Anfang steht doch gewiss die 1, während der Endpunkt willkürlich bestimmt wird. Solange wir die 1 haben, können wir unendlich weit zählen.  Am Ende ist alles andere nur Ableitung, Fortführung und man fällt immer zurück auf die 1. Denn die Zahlen 2-9 entstehen durch die Hinzufügungen weiterer Einsen und anschließend muss man eine 1 setzen, um Nullen anhängend weitere Zahlen ausdrücken zu können: nach der 9 kommt die 10; nach der 99, kommt die 100, usw. Ob die 10er oder 100er Reihe – jede neue Reihe beginnt immer mit einer erneuten Fixierung der 1, die wiederum alle nachfolgenden Reihen auf 0 setzt: kommen wir bei der 99.999 an, folgt 100.000. Auf 999.999 schließt 1.000.000. 

Wieder ist die 1 unabhängig, denn um 1 sagen zu können, brauchen wir die nachfolgenden nicht. Damit es alle anderen gibt, muss es jedoch die 1 geben; ohne sie gibt es keine 2, keine 3, usw. 

 

Metaphysisch-philosophisch lässt sich dies folgendermaßen deuten:

 

0 bedeutet Nichtsein. Denn wie viele Nullen man auch an die 1 dranhängt, wirklich bleibt nur sie, die erste und eigentlich einzige Zahl, denn sie liegt allen anderen zugrunde. Nehmen wir die 1 weg, bleiben nur lauter Nullen, also Nichtsein. Demnach gibt es in Wahrheit keine 10000, sondern nur tausend 1en, also eine sich tausendmal zeigende 1. Wie also bis ins unendliche sich zählen lässt, so hat die 1 unendlich viele Erscheinungsweisen: Die Unendlichkeit der Zahlen ergibt sich in Wirklichkeit aus der Unendlichkeit der 1. 

 

Überhaupt gibt es die 0 erst nachdem es die 1 gibt; im Gegensatz zu allen Zahlen ist sie nichts weil sie keine 1 enthält. Das Sein gab es also vor dem Nichtsein; das Nichtsein gibt es nicht, es bezeichnet nur die Seinslosigkeit. Das aber ist die Gottlosigkeit, denn Gott ist die 1. Er ist Eins aber alles; das Verstehbare lässt sich nur im Verhältnis zu Ihm verstehen, wie das Zählbare erst im Verhältnis zur 1 sich zählen lässt. Wenn etwas ist, so weil es verhältnismäßig zu Ihm ist; wenn etwas völlig getrennt ist von ihm, dann gibt es es nicht. Somit sagt die Mathematik auch etwas über die vielen Stufen des Seins aus und wie sie entstanden: Wie am Anfang einer jeden Zahlenreihe die 1 steht, steht am Anfang einer jeden Seinsstufe Er. Doch je weiter die Zählung sich von der 1 entfernt, umso entfernter ist es von der reinen 1. Und so verstanden es auch sämtliche vormoderne Philosophen verschiedener Traditionen: Auf allen Stufen des Seins gibt Gott sich kund; nichts kann es geben, wenn es nicht in Beziehung zu ihm steht. So ist für Mulla Sadra alles, was ist, ein Buch, in dem über Gott gelesen werden kann. Die Trennung zwischen Geist und Materie ist rein metaphorisch; in Wahrheit sind beides eins, der zweite Bereich nur weiter entfernt vom Absoluten, sodass er grobstofflich dies in einer entsprechend qualitativ niedrigeren Beschaffenheit ausdrückt. Somit gibt es eigentlich in der Wirklichkeit keine Weltverneinung, keine Verzweiflung, keine Gottesferne: Wie die 1 in der Welt der Zahlen allgegenwärtig ist, so ist Gott es in Allem. Was in der Mathematik eine Fixierung der 1 am Anfang und am Ende einer jeden Zahlenreihe bedeutet, bedeutet im Sein eine fortwährende Besinnung auf Gott für den, der tatsächlich wahr-nimmt. 

 

Und doch flieht der Mensch das Einssein und tut, als verberge sie sich nicht hinter der 2 und allen anderen. Er tut, als gäbe es nicht das Allumfassende. Das sind die Atheisten. Oder, als wären 1 und alles übrige getrennt voneinander. Das sind die Deisten. Oder, als gäbe es nur die 1 und die 2. Das sind die Dualisten, für die es eine substantielle Trennung zwischen dem Einen und dem Vielfachen gibt, zwischen Metaphysik und Physik, Geistigem und Körperlichen. 

 

Im Verhältnis zur 2 bedeutet die 1 Reinheit, Vollkommenheit, Vollständigkeit und Einheit. Denn das Wesensgleiche ist nicht getrennt durch ein anderes, wie bei der 2 (d.i. 1 UND 1). Es geht um die 1 so wie sie ist, in ihrer reinsten Form. 

 

Und doch ist auch sie nur Form, denn wenn es 1 gibt, dann gibt es auch einen ,,1“ Sprechenden. Dies führt uns zum Wort „Eins“, deshalb war am Anfang das Wort „Sei“, bevor es das „Sein“ gab. Indes, aller Ausspruch beginnt mit einem Atemzug; das Wort selbst ist also erste Form, Prinzip ist aber der Geist. 

 

Und vor dem Geist? Da ist das Absolute. Unaussprechlich; unförmig; und unerreichbar. Und doch essentiell in Beziehung. Auch der Sonne können wir uns nicht nähern, ja nicht mal sie geradewegs unverwandt anschauen. Das hält aber nicht sie davon ab, uns mit ihren Strahlen zu wärmen, Leben zu ermöglichen, Licht zu schenken. So auch mit dem Absoluten: Weil das Relative relativ ist, d.h. bedingt, kann es jenes nicht berühren, weil es verbrennen würde; doch gerade weil das Absolute absolut ist, d.h. unbedingt, kann es das Relative berühren ohne zu verbrennen. Und so heißt es: „… und wenn ihr Gott nicht sehen könnt, so wisset, dass Er euch sieht“.  

 

In der Folge bleibt einsam, wer in der allesenthaltenden und allesseienden 1 eingeht. Denn er weiß, was sie ist und weiß, was sie nicht ist – als rein und vollkommen 1 seiende Zahl ist sie Alles in der Welt der Formen, und doch nichts im Angesicht des Überförmlichen. „Er“ ist mehr als das Wort, mehr als der Ausspruch, der Atem, das Er. 

So unendlicher Aufstieg, doch niemals Ankunft – Schauen, doch niemals Gesehen. Damit kommen wir zur tiefsten Einsamkeit: Denn der Ansammelnde ist nicht nur in der Ansammlung, sondern selbst im Ansammelnden einsam: Einsam in der eigenen Haut, nicht mal sich selbst mitteilbar: „Ich passe nirgends hin als in das Herz meines Dieners“. Wer Einsgeworden, der versteht das nirgends, denn während das Absolute vom Absoluten getragen werden kann, vermag Einsgewordener nicht zu tragen. Und so ist es ewige Sehnsucht, ewiges Brennen: Was den Absoluten schaut, ist verwandelt und sich fremd geworden – geht es über die Eins hinaus?