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Die ewige Selbstbetrachtung des Absoluten als Ursprung von allem Sein und Seiende als Standpunkte zur Gottesschau (Koranvers, Aristoteles und Tugendbegriff)

Der Qurān sagt, dass wohin wir uns auch wenden, Allāhs Angesicht dort ist. 

Ich möchte einen Erklärungsvorschlag unterbreiten, wie das sein kann, dass dieser Vers - und sinngemäße Entsprechungen anderer heiliger Quellen und Philosophien - tatsächlich wortwörtlich zu verstehen sind.

 

Formel: Weil X hervorging, während Gott sich selbst betrachtet, und die Erscheinungsform demgemäß entstand, wie Gott sich sah, können wir in und durch X Gott sehen, wie auch andersherum: Weil X ausdrückt, wie Gott sich sieht und Gott ewig ist, sieht und berührt Er mich durch X, wie ich Ihn. 

 

Kurze Begründung: Am Koranvers finde ich zwei Dinge besonders auffallend: 1. Es ist die Rede von Allāh, d.i. Gott als das Absolute, an sich, nicht in Beziehung oder unter einem bestimmten Anblick, etwa als der Vergebende. Und 2., dass genau das Antlitz von Jenem allumfassend, also allenthaltend und allübersteigend ist. 

Das Absolute betrachtet sich fortwährend selbst, weil Es unbedingt und unendlich ist. Mit diesen zwei Erläuterungen von "absolut" macht Frithjof Schuon den seit Kant tabuisierten Begriff des Absoluten denkbar und somit die zugrundeliegende Wirklichkeit wieder zugänglich. Zu sagen, Gott ist absolut, bedeutet, dass Er rein Er selbst ist. Seine Absolutheit besteht in Seinem Selbstsein, nicht in irgendeiner Eigenschaft, Beziehung etc. Was Er in seiner Selbstschau sieht, das manifestiert sich gemäß dessen, wie Er sich in jenem Jetzt sieht. So z.B. in einem Selbst, das ist, einem Sein, das betrachtet wird, und Prinzipien, wie das Prinzip der Schönheit oder Unendlichkeit, die göttlich sind, weil sie unmittelbar aus dem hervorgehen, was Gott in sich sieht, jedoch nicht Gott sind, weil sie ihr göttliches Sein der Teilhabe an Seinem Sein verdanken.

 

Es ist also kein Pantheismus: Sie bieten Standpunkte zur Anschauung des Göttlichen, weil sie selbst in ihrem So-Sein während Seiner Selbstbetrachtung hervorgingen. Und so ist es mit allem weiteren, denn jene Prinzipien drücken den göttlichen Anblick in weiteren Formen aus, die an ihnen teilhaben (z.B. schöne Dinge an der Schönheit). Kurzum: Alles, was wirklich ist, ist so, wie es ist, weil Gott sich so gesehen hat. Deshalb trägt alles Wirkliche Seine Spur: vom Adel des Schwans bis zur musikalischen Harmonie, ebenso wie die wahrhaft seelische wie erotische Liebe Teilhabe an der Gottesliebe ist: Denn wenn es Liebe ist, ist auch erstere auf Ihn gerichtet, sie äußert sich nur gemäß der Form anders, in der sie Gott so sieht, wie Er Sich gesehen’. Unsere Erkenntnisvermögen spiegeln das wieder: mit den Sinnen nehmen wir Gott im Physischen wahr; mit der Vernunft finden wir Gott im Metaphysischen, und im Herzen kehren wir in Ihm ein. Präziser wäre vielleicht: In den Formen sehen wir nach unseren Möglichkeiten und denen der Formen Gottes Wesen, im Selbst sehen wir Gott. Vielleicht kann man sogar weiter gehen: … sieht Er sich selbst? 

 

 

Längere Erklärung im Lichte der Tradition: Aristoteles schreibt Eigenschaften dem Unbewegten Beweger zu, also dem Urgrund allen Seins,  die wir auch Gott zuschreiben können, weil er am Ende seiner Analyse Gott als dasjenige identifiziert, dem jene Eigenschaften zukommen. Die Betrachtung des Erkennbaren am Göttlichen für die Vernunft (nous, Intellekt) sei das Angenehmste und Beste; im Ergreifen Dessen erkenne die Vernunft sich selbst und werde eins mit dem Erkennbaren. Aristoteles schreibt, dass Gott ewiges Leben enthält und die Wirklichkeit ist; Gott als Prinzip von allem ist notwendig und absolut; unser vergängliches Leben und unsere bedingte Wirklichkeit ist vermittels Teilhabe an Ihm; unsere Kontingenz und Verhältnismäßigkeit ist Folge dieser Teilhabe. Ferner sei Gott als unbewegter Beweger Erstrebt und Erkennbar. Nun sei die Betrachtung des Erkennbaren für die Vernunft das Angenehmste und Beste; denn im Ergreifen dessen erkenne die Vernunft sich selbst und werde eins mit dem Erkennbaren. Aristoteles, der das Sein in Einheit denkt, muss zugestehen, dass alles Lebende nur vermittels Teilhabe an Gott leben kann, so auch alles wirkliche, der das Prinzip von allem Sein ist.

 

So würde er zustimmen, wenn Ibn ʿArabī sagt, dass Gott die Schönheit aller Formen liebt, weil sie Seine Schönheit widerspiegeln: Wenn etwas schön ist, dann ist es die formhafte Verwirklichung des Prinzips Schönheit; Gott ist an sich schön, die schönen Dinge vermittels der Kundgabe Seiner Schönheit. Deshalb macht die Tugend die Seele zu einem Spiegel der göttlichen Schönheit, nicht umsonst steckt im arabischen iḥsān (Begriff für Tugenden „schönes tun“) und muḥsin (der Tugendhafte, schön Handelnde) ḥusn, d.i. Schönheit. Doch Tugenden sind nur die Verwirklichung unserer Natur, etwa ist der arabische Begriff für das gute Benehmen (aḥlāq), unter dem gegenwärtig häufiger Islamische Ethik gefasst wird, der Plural von khulq, was Veranlagung bedeutet, d.i. sich gut zu benehmen ist unsere Veranlagungen zu verwirklichen.

 

Vereinfachend: Die Natur einer Sache ist der Anblick Gottes. Denn es kann keine Wirklichkeit neben Seiner geben, also muss jede Wirklichkeit Seine sein. Oder anders: Weil die Natur einer Sache Seine Kundgabe ist, sehen wir überall, wohin wir uns auch wenden, Sein Antlitz. Vielleicht kann man sogar weitergehen: ,,Ich war ein verborgener Schatz und wollte erkannt werden, deshalb schuf ich die Welt“. Aber nicht damit die Welt Ihn erkennt, sondern weil Er Sich und damit die unendlichen Ausdrucksmöglichkeiten Seiner Selbst betrachtet?