Stellen wir uns vor, wir sitzen im eigenen Schlafzimmer, das zwei Fenster hat. Die Philosophie befindet sich draußen im Freien, außerhalb des Gebäudes, in dem unser Schlafzimmer liegt.
Von hier gibt es drei mögliche Herangehensweisen:
Die erste besteht in dem Versuch, die Tür zu öffnen und die Philosophie nach drinnen zerren zu wollen. Das Problem hierbei: Die Philosophie ist kein greifbarer Gegenstand. Man wird allerlei in die Hände bekommen, nach drinnen zerren und „Philosophie“ nennen zu können - dann könnten wir einen greifbaren Gegenstand „Philosophie“ nennen, der nur nicht Philosophie wäre.
Die zweite besteht darin, die Tür zu öffnen und blindlings hinaus ins Freie zu stürmen. Das wäre, als würde man sich ohne weiteres in die pralle Sonne stellen.
Die dritte - welche ich hier vorschlage - legt nahe, zunächst aus den beiden Fenstern hinaus zu schauen, was es denn mit jenem etwas auf sich hat, welches sich da befindet. Beide Fenster sind wie zwei Gesichtspunkte, die zwei unterschiedliche Seiten der Philosophie vor Augen führen. Gemeinsam ist ihnen, dass es in der Philosophie um Wahrheit geht. Doch was heißt, es geht um Wahrheit? Das sagen uns die zwei Fenster:
- Fenster: Philosophie bedeutet die Wahrheit über das derzeit Geltende, d.h. konkret auf der individuellen Ebene das Verständnis darüber, wie und wieso eine Person denkt, wie sie denkt, urteilt, wie sie urteilt und handelt, wie sie handelt. Selbiges lässt sich auf die Gesellschaft oder Wissenschaft anwenden. Die zwei Fragen, die es dabei zu stellen gilt: Wie und warum denke ich auf diese Weise (z.B. über das Menschsein)? Wie und warum urteile ich über jenes so (z.B. was ein glückliches Leben ausmacht)? Philosophie bedeutet demnach Selbsterkenntnis.
- Fenster: Nachdem wir herausgefunden haben, wie wir denken, stellt sich die Frage, ob es sich wirklich so verhält, wie wir meinen. Das ist die Bedeutung von Hinter-fragen, nämlich zu prüfen, was sich hinter dem verbirgt, was uns vermittelt wird. Die Frage hierzu lautet: Was ist z.B. die Gerechtigkeit? Was bedeutet ein selbstbestimmtes Leben? Wie verhält es sich mit dem Versuch, gute Vorsätze mit praktischer Nachlässigkeit zu vereinen? Denn solange wir bestimmte Moralsysteme verurteilen, etwa das des Nationalsozialismus, müssen wir uns auch eingestehen, dass es einen Unterschied geben kann zwischen dem, wie uns etwas anerzogen oder in der Bildung nahegelegt wird, und dem, wie es sich wirklich verhält. Philosophie bedeutet folglich Erkenntnis des Wesens der Dinge.
Es ergeben sich somit zwei Gesichtspunkte, was Philosophie bedeutet:
- Philosophie bedeutet Selbsterkenntnis.
- Philosophie bedeutet Erkenntnis des Wesens der Dinge.
Was Philosophie nun ist, ergibt sich folgerichtig aus dem beide Gesichtspunkte verbindenden Glied. In beiden Fällen geht es nämlich um die Erkenntnis dessen, wie es sich verhält, unabhängig davon, welche Konsequenzen das Ergebnis hätte. Folgerichtig ist die Philosophie bewusste Wahrheitssuche: Philosophie ist das Streben nach Wahrheit. Nun kann Wahrheit nur erstrebt werden, wenn der Unterschied zwischen Schein und Wirklichkeit, dem Nichtigen und dem Bedeutsamen nicht begriffen ist. Es sei vorgestellt: Eine falsche Meinung darüber, was glücklich macht, bedeutet ein Leben lang fruchtlose Mühen auf sich zu nehmen. Und wie häufig kam es vor, dass täuschende Meinungen und Lehren ganz selbstverständlich umhergereicht wurden - Hinterfragen ist also völlig folgerichtig, weil nur so ein Mensch sich gemäß der Natur der Sache verhalten kann. Darin wiederum, also in der Folgerichtigkeit liegt Weisheit, denn wer ein Luftschloss der hölzernen Hütte vorzieht, wird im Sommer unter der Hitze leiden, im Herbst nass werden, im Winter frieren und im Frühling der Unvorhersehbarkeit des Wetters und den Pollen ausgesetzt sein. Der Kreis ist geschlossen:
Philosophie ist die Neigung zur Weisheit.