Vorspann: Charakteristisch für die Gegenwart sind allgegenwärtige ,,-ismen“. Menschen sind für Gleichstellung von Mann und Frau? Feministinnen und Feministen. Menschen sind für den Ausgleich sozialer Ungleichheiten? Sozialistinnen und Sozialisten. Menschen sehen im Klimawandel den Grund für fundamentale Veränderungen? Klimaaktivistinnen und Klimaaktivisten. Zur Diskussion möchte ich stellen, dass eine solche Zuordnung darauf hinweist, dass es nicht mehr um die Gerechtigkeit, sondern um die eigene Sache geht. Denn wenn es einem Menschen um Gerechtigkeit ginge, müsste er sich folgerichtig gegen jegliche Ungerechtigkeit stellen, unabhängig, davon, wem sie gilt. Die Umgangsweisen mit dem Israel-Palästina ,,Konflikt" führen das auf eine eindrucksvolle Weise vor, weil hier völlig verschiedene Zugehörigkeiten angesprochen werden, während gleichzeitig andere - wie z.B. die der Klimaaktivistinnen oder Feministen - unberührt bleiben.
Gerechtigkeit - gegen alle Relativisten bleibt die Tatsache, dass kein Mensch um den Anspruch herumkommt. Schließlich würde kein Mensch von sich behaupten ,,Ich fordere Ungerechtigkeit“. Qua Mensch fühlen wir uns stattdessen in Erklärungsnot, sobald wir in die Nähe von Ungerechtigkeit rücken. Kein Diktator würde es hinnehmen, wenn er ,,ungerecht“ genannt würde, vielmehr würden unterschiedliche Rechtfertigungsversuche für ungerechte Handlungen unternommen. Selbiges gilt für Freiheit. Sie kann unterschiedlich verstanden werden, kein Mensch würde aber überzeugt sagen ,,Ich will unfrei sein“, ohne in Erklärungsnot vor sich und andere zu gelangen, allenfalls Freiheit bewusst oder unbewusst missverstehen. Das hängt mit unserer intuitiven Einsicht zusammen, dass der Wert einer Sache vom Worumwillen abhängt, verhältnismäßig zum Grund erhebt oder erniedrigt eine Handlung den Handelnden.
Das Bemühen um Gerechtigkeit hat demnach etwas mit dem Bemühen um (Selbst)Achtung zu tun. Wenn aber sowohl gerechte, als auch ungerechte Menschen grundsätzlich mit dem Anspruch der Gerechtigkeit umzugehen haben, so unterscheiden sie sich schlicht darin, dass erstere sich dem Anspruch stellen, während letztere sich darüber hinweg täuschen. Wie allen Prinzipien nämlich, ist es der Gerechtigkeit unerheblich, wie die anderen sind. Ihr geht es um den Einzelnen, aufrichtig sich um Gerechtigkeit bemühen, bedeutet, sich selbst am Prinzip zu richten, statt das (Fehl)Verhalten anderer zum Vorwand zu nehmen. Deshalb ist auch die Gerechtigkeit so klar, weil ihr Maßstab unabhängig der Verworrenheiten menschlichen Treibens bleibt. Wer sich unterscheidend an sie hält, hat klares zu Hand, gleich dem Wasser, das solange klar bleibt, wie es nicht vermischt wird.
Konklusion: Aufrichtiger Gerechtigkeitswille besteht im Selbstanspruch. Davon abgesehen: Was der Mensch will, das will er zunächst für sich selbst: Was er hoch hält, das will er sein. Wie kann ein Mensch also wirklich Gerechtigkeit wollen, ohne gleichzeitig die größte Mühe in sich zu investieren? Oder kennen Sie einen Menschen, dem es wirklich um Glückseligkeit geht, der sich aber gleichzeitig nicht in erster Linie um sein eigenes glücklich-Sein bemüht? Also auch jene, die ständig vom egoistischen Menschen sprechen, müssten eingestehen: Wem es um Gerechtigkeit geht, der wird in erster Linie selbst gerecht sein wollen.
Beobachten wir nun die gesellschaftlichen Debatten: Sobald die Themen der jeweiligen Parteien angesprochen sind, melden sich die entsprechenden Vertreter. Was ist indes, wenn solche Themen auf der Tagesordnung stehen, von denen die eigene Lebenswelt unberührt bleibt, die nichtsdestoweniger ebenfalls von Gerechtigkeit handeln, aber eben von der Gerechtigkeit für andere? Gegenwärtig handeln die Medien z.B. wieder mal vom Israel-Palästina „Konflikt“. Einige Lebenswelten bleiben unberührt: Es hat weder etwas mit dem Klima zu tun, noch der sozialen Gerechtigkeit in Deutschland. Gleichzeitig ist es unbestritten, dass in dem Moment, wenn darüber berichtet und die Berichterstattung verfolgt wird, nicht mehr nur Israelis und Palästinenser aufeinandertreffen, sondern je nach Standpunkt verschiedene Bewusstseinsprägungen: Ein Deutscher hat den Holocaust im Hinterkopf, ein Franzose seine Vorstellung vom Islam als Bedrohung, während eine Türkin und Iranerin die Gelegenheit zu Machtspielen im Nahen Osten sehen oder die Araber wieder in ihren Schimpftiraden auf den bösen Zionismus sich ergehen können, um ja nicht die Mühe der Selbstreflexion wagen zu müssen. Da ist der Linke, der seit Jahrzehnten gegen amerikanische Außenpolitik und israelische Siedlungspolitik demonstriert oder die Rechte, welche alle Seiten ablehnt, jedoch in den Muslimen das drängendere Übel sieht. Und zuletzt sind da jene Experten, die allen Parteien Eigeninteresse unterstellen, sich selbst aber vergessen; denn deren Mangel an Gerechtigkeitswille äußert sich darin, was sie aus ihrer Erkenntnis machen.
Wenn wir nun die dem oberflächlichen Geschehen zugrunde liegenden Reaktionsmuster betrachten und mit anderen Berichterstattungen vergleichen, etwa hinsichtlich des Klimawandels, sozialer Ungleichheit oder der Geschlechterfrage:
Geht es wirklich um Gerechtigkeit? Und wenn es uns Fragenden um Gerechtigkeit geht, unsere Selbstreflexion aber nicht positiv ausfällt, könnten wir dann beim Ergebnis verharren?