Die Waisen lehren, dass der Mensch aus drei Standpunkten heraus dem Streben nach dem Guten folgen kann:
1. Erkenntnis: Das Gute, weil es wirklich und wahr ist.
2. Liebe: Das Gute, weil es schön ist und zum Glück weist.
3. Furcht: Das Gute, weil das Böse Unglück bedeutet.
Im Folgenden möchte ich zunächst alle drei erläutern, denn diese Standpunkte spiegeln drei Zustände der Seele wider, d.h. je nachdem, in welchem Zustand die Seele sich gerade befindet, ist sie für das Gute entsprechend empfänglich. Anschließend soll folgende Frage unbeantwortet bleiben: Kann es sein, dass die dem modernen Menschen wesenhafte Unfähigkeit zum Guten möglicherweise damit zusammenhängt, dass er keinen dieser Standpunkte einnehmen kann? Ich bitte um Prüfung:
Zur Erkenntnis: Wir gehen davon aus, dass es keine objektive Wahrheit gibt. ,,Wahr" ist für uns bloß ein Synonym für ,,richtig". Gibt es keine Wahrheit, kann es auch keine Erkenntnis geben. Zu sagen, der Mensch habe keinen Zugang zur sonst vorhandenen Wahrheit, läuft auf das selbe hinaus, denn dann wird er ihr gegenüber gleichgültig. Wenn es nun keine Wahrheit gibt oder sie außer Reichweite liegt, veräußerlicht ,,Wissenschaft": Es werden Informationen über Erscheinungen und Verschriftlichungen gesammelt, die solange gültig sind, wie sie mit der Gesamtmenge an Informationen übereinstimmen. Konsequenz: Selbst der Philosoph wird zum Historiker, der Informationen darüber sammelt, was Aristoteles wann in welchem Kontext sagte, statt zu verstehen, was er meinte. Mit anderen Worten: Wir blicken einzig auf das, was über das Gute geschrieben wurde, gleich jemandem, der nach dem Weg fragt, die Erklärung anhört, nur um dankend stehen zu bleiben. Ein Haufen Wegbeschreibungen sind wie ein unverstandenes, auswendig gelerntes Gedicht.
Zur Liebe: Bestenfalls sagen wir noch ,,Liebe", meinen aber entweder Begehren oder Zuneigung. Freilich fruchtet die Erhabenheit des Guten weder im niederen, noch im instinktiven Seelenteil. Naturgemäß widerstrebt das Niedere dem Erhabenen, das Instinktive dem Befreienden. Wer sich in den Verstrickungen des Begehrens oder der gewohnheitsmäßigen Zuneigung einschließt, der wird getrieben von den leeren Versprechungen der Leidenschaften. Schafft man den Sprung zur Zuneigung, mag man bloß, was ,,zu mir" gehört, welche Neigung ist nicht ichbezogen? Deshalb endet der Satz ,,Ich liebe..." nicht mit Tugenden, sondern Beschäftigungen, Hobbys oder nahestehenden Personen. Kaum bemerken der Leidenschaftliche und der Mögende das Trugbild, behaupten sie, es gäbe keine Liebe. Wie jemand, der sich mit Egoisten umgibt und alle zum ,,Denke an dich" aufruft, nur um plötzlich den Geistesblitz zu haben, alle Menschen seien egoistisch.
Zur Furcht: Diese birgt zwei Seiten. Die Furcht des Dogmatikers ist, dass die ihn übersteigende Macht ihn für seine Taten bestraft. Das Unglück befürchtet er im Jenseits. Die Furcht des Geistigen besteht darin, den Bezug zum Guten verlierend im Schlummerzustand des Oberflächlichen vor sich hinzudämmern. Die erste Form der Furcht ist für uns nicht relevant, es genügt ja nicht mal die durch die ökologische Krise drohende Auslöschung, um eine andere Macht als die des neuzeitlich-modernen ,,Ichs" anzuerkennen. Die Furcht des Geistigen fällt ebenso weg: Wenn es keine Wahrheit im Menschen gibt, dann hat er nichts, was er verlieren könnte. Seine einzige Sorge richtet sich folgerichtig darauf, was er bekommen kann: Wenn er nichts ist, dann drängt er zu haben.
Gewiss hängen diese Ebenen miteinander zusammen. Man kann nicht lieben, ohne zuvor erkannt zu haben, man kann nicht lieben, ohne den Schmerz der Trennung zu fürchten. Ob Dogmatiker oder Geistiger: Wer nicht erkannt hat, der fürchtet nicht um der Wahrheit willen, sondern der eigenen Illusionen wegen, in denen er sich wohlfühlt.
Was bleibt einem Menschen, der nichts davon hat, mehr vom Guten, als ein leerer Ausdruck ,,Gut"?