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Die Wurzeln unserer Ichbezogenheit, oder: Die neuzeitliche Philosophiegeschichte und die Krönung des Egos

Im Folgenden möchte ich Ihnen beweisen, dass die Rolle der Philosophie und ihre Relevanz eng zusammenhängen, sowie unser aller Privatleben, Gefühlsleben und Denken unterbewusst prägen. Wer die Philosophiegeschichte nicht wenigstens ansatzweise kennt, der bleibt sich selbst ein Rätsel und ist ausschließlich das Produkt seiner Zeit. Nicht nur das gegenwärtige Selbst- und Glücksverständnis des durchschnittlichen Bürgers, sondern auch wissenschaftliche Ausrichtungen gründen auf entscheidenden Bedeutungsverschiebungen in der Philosophiegeschichte. Von der allseits präsenten Selbstinszenierung bis hin zur Verweigerung, seinen Anteil am gemeinsamen Überwinden der Pandemie oder des Klimawandels zu leisten, vom Konsumwahn bis zur Wissenschaft ohne Moral:

 

Meine Hypothese lautet, dass eine überverhältnismäßige Ichbezogenheit das vielen Problemen zugrundeliegende Übel ist. Eine Ichbezogenheit, die indes nicht selbstverständlich zum Menschsein gehört, sondern deren Grundstein in der Renaissance gelegt wird, die mit Descartes‘ ,,cogito ergo sum“ sich entfaltend erst die Erkenntnistheorie neu ausrichtet, bevor sie in der Postmoderne in einer den Selbstbezug des Einzelnen und seines Bezugs zur Außenwelt bestimmenden Hürde wird: Was wir ganz selbstverständlich unter ,,Selbstverwirklichung“ verstehen und mit ,,Ich“ bezeichnen, sind nämlich bloß Konstruktionen, gleichwohl mit verheerenden Folgen. 

 

Zunächst möchte ich zeigen, wie das Ich in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit rückte und daraufhin Ausgangspunkt des Weltbezuges wurde. Keineswegs sind dies Fantasien eines übereifrigen Philosophiestudenten, auch ein Gottfried Gabriel betont, dass von Descartes bis Schopenhauer erkenntnistheoretisch vom Subjekt Ausgang genommen würde,[1] d.h. Wirklichkeit wird vom Menschen ausgehend bestimmt, was folgerichtig den Menschen zum Maßstab erhebt. Ferner hebt Werner Becker hervor, dass mit Kant, Hegel und Marx auch die Wirklichkeit selbst verhältnismäßig zum Subjekt bestimmt würde.[2] Dieser Spur und ihrer Bedeutung sei im Folgenden nachgegangen. 

 

In der Renaissance beginnt nicht bloß eine Besinnung auf das Menschsein, sondern auf das ,,Ich“. In der Abgrenzung der Renaissance-Denker von der christlichen Scholastik liegt eine Verschiebung des Anspruches von der Wahrheitsnähe zum erfahrungsgeprägten Genuss. So gab Mirandola seinen Zeitgenossen auf deren Kritik am Stil der Scholastik sinngemäß zu bedenken, dass den Scholastikern eben nicht entscheidend wäre, wie schön etwas klänge, sondern wie wahr es wäre. Damit hing womöglich zusammen, dass Wirklichkeit anders verstanden wurde: Der Scholastiker suchte eine geistige Wirklichkeit zu versinnbildlichen, der Mensch der Rinascimento eine äußerliche Wirklichkeit formhafte abzubilden, weshalb etwa die Landschaftsmalerei die Heiligendarstellung nach und nach ersetzte. Im Zuge dessen wird der Geschmack des menschlichen Betrachters zwar noch nicht zu dem, wiewohl zu einem wichtigen Prüfstein der Beurteilung.

 

Eine solche Bedeutungsverschiebung von innerer Wahrheit zur äußeren Wirkung bedeutet keineswegs, dass es bloß um Leidenschaften gegangen wäre. So schreibt Francesco Petrarca, einer der Vordenker des Humanismus im 14. Jhd.: ,,Wer seine Leidenschaften durch den Zaum der Vernunft zu regieren sucht und erkennt, dass er nur insoweit über das Tier erhaben steht, als er die Vernunft gebraucht: – der heißt ein wahrer Mensch!“. Vielmehr geht es darum, dass das Selbstverständnis des Menschen eine neue Qualität erfährt, was sich ebenso im Vernunftbegriff zeigt. Wenn für die Scholastiker die menschliche Vernunft ihre Erkenntniskraft in den Worten des Thomas von Aquin der ,,Einstrahlung göttlichen Lichtes in uns“[3] verdanke, besteht ein gewisses Abhängigkeitsverhältnis, da der Wert sich aus dem Göttlichen ergibt, wohingegen nun die menschliche Vernunft als solche sich hervorzutun beginnt. Während bekanntlich z.B. vor der Renaissance der Architekt oder Künstler im Verhältnis zu seinem Werk kaum Beachtung fand, weil das Werk der Lobpreisung Gottes galt und diese somit an erster Stelle stand, treten nun die Personen hinter den Werken zum Vorschein: Sie sind es, die zelebriert werden, nun setzen sie sich und ihre Fähigkeiten in Szene. Was damit in der Renaissance keimhaft beginnt und mit Descartes Wurzeln schlägt, ist die Verschiebung der Bedeutungsgenerierung und des Entstehungsmoments von Wirklichkeit. Es wird nämlich vom Individuum Ausgang genommen, d.h. die Wirklichkeit wird abhängig von sich, dem Subjekt bestimmt. Zunächst fällt hierzu bei Descartes der Gottesbezug des Menschen weg. Ihm zufolge bedürfen wir des Postulats eines vollkommenen und guten Gottes als Ausgangspunkt für ein sicheres Denken,  weil wir auf diese Weise einerseits wenigstens im Schöpfungsakt in Bezug zu einer objektiven Instanz stünden, andererseits aufgrund seines Gutseins nicht zu befürchten bräuchten, böswillig in die Irre geleitet zu werden.  Der Gott als Schöpfer am Ursprung ist demnach eine pragmatische Lösung, um nicht dem Skeptizismus zu verfallen, menschseiend stünden wir aber in keinerlei Bezug zu Ihm. Damit kann es für Descartes nicht nur keinen sicheren Bezug zur außersubjektiven Welt geben, sondern wir werden überhaupt zum Zweifel an einer solchen gehalten. Dadurch, dass jegliche außersubjektive Wirklichkeit angezweifelt wird,[4] wird die Gewissheit und die Wahrheit durch den innersubjektiven Selbstbezug erlangt. In der Konsequenz wird die Richterinstanz in den Menschen verlegt, folgerichtig wird alles relativ, d.h. verhältnismäßig zum Subjekt betrachtet. Und weil das Subjekt per definitionem verhältnismäßig ist, wird es folgerichtig alles verhältnismäßig zu sich selbst betrachtend jeglichem anderen eine von ihm unabhängige, ontologische Wirklichkeit absprechen oder ihr gegenüber gleichgültig. In der Konsequenz verharrt das Subjekt bewusstseinsmäßig bei sich. So schreibt Werner Becker: ,,Bewußtsein ist stets ,Bewußtsein von etwas’; eine Abspaltung des Bewußtseinsmoments von der Beziehung auf einen gewußten Gegenstand führt in jedem Fall auf einen isolierten und notwendigen selbstbezüglichen Ich-Begriff“[5]. Um die Bedeutung dessen zu verdeutlichen, sei Jason Moores Kapitalozän-Kritik bedacht. Er führt aus, dass der Kapitalismus, um die Natur ungehindert mit dem Ziel der Profitmaximierung ausbeuten zu können, ihr eine vom Menschen unabhängige, seinsmäßige Wirklichkeit abspricht, so dass sie seinem Eingriff beliebig ausgesetzt werden könne.[6] Dies lässt sich auf den Umgang mit der Pandemie anwenden: Wenn der Einzelne als Individuum oder eine Gesellschaft als Kollektiv beginnt, jegliches Andere bloß verhältnismäßig zu sich selbst zu betrachten, wird er oder sie nicht solidarisch, allenfalls bloß so lange kooperativ sein, wie der eigene Profit garantiert bleibt. 

 

Nochmal einen Schritt zurück. Wie der Philosoph Seyyed Hossein Nasr, verbindet Becker mit der bei Descartes vollzogenen Verschiebung der Richtinstanz in die individuelle Subjektivität eine ,,Verabsolutierung der ratio“[7], woraufhin im weiteren Verlauf das Denken des individuellen Egos zum Zentrum der Wirklichkeit und Kriterium allen Wissens geadelt wird.[8]  Etwa schreibt Kant einerseits von der autonomen Vernunft und dass der Mensch sich mittels ihrer aus seiner Unmündigkeit befreien könne, andererseits, dass der Mensch bloß die Dinge in ihren Erscheinungen erkennen könne, was darauf hinausläuft, dass Grundlage der Wirklichkeit bloß unsere Wahrnehmung wird. Schon dies ist eine qualitative Abwertung von ,,Wirklichkeit“, wie es gleichermaßen das vom Menschen genannte ,,Wirklichkeit“ qualitativ aufwertet. Wie dem auch sei: Bei Kant bezieht die Vernunft ihre Autonomie aus sich selbst heraus, bei Thomas von Aquin bezieht sie diese aus dem wirkungsmäßigen Gottesbezug. Das bei Kant aufgehobene Abhängigkeitsverhältnis misst dem erkennenden Ich eine ganz andere Qualität zu. Interessant ist, dass in der folgerichtigen Aufwertung des Ichbezugs sich unterschiedliche Denker vereinen lassen. Ein Karl Marx z.B. hält jegliche Gründung des Menschen auf etwas anderes, als dessen Subjektivität, für eine Entmenschlichung: Wirklichkeit sei einzig, was die Menschen produzieren, alles andere, von der Religion bis zu philosophischen Ideen bloße ,,Ausgeburten ihres Kopfes“[9]. Marx‘ Kritik an der Religion ist hilfreich, um die Konsequenzen der zuvor skizzierten Aufwertung besser nachvollziehen zu können. Seine Kritik richtet sich nicht bloß gegen Offenbarungsreligionen, wie bei Spinoza oder Kant, ebensowenig bleibt sie auf Religionen beschränkt. Sie sei vielmehr die Grundlage überhaupt jeglicher Kritik,[10] damit meint Marx an jeglicher Vorstellung einer vom Menschen unabhängigen Wirklichkeit. Daher fordert er auch im 4. Kapitel des kommunistischen Manifests, neben der Religion gleichfalls die Moral als abzuschaffende Entität zu begreifen. Wenn somit Marx schreibt: ,,Die Religion ist nur die illusorische Sonne, die sich um den Menschen bewegt, solange er sich nicht um sich selbst bewegt“[11], ist man berechtigt zu fragen, ob der Ausdruck ,,Religion“ sich nicht durch Moral, Solidarität, etc. ersetzen ließe. Es ist diese Denkart, die sich auch bei Nietzsche, Freud und anderen einflussreichen Denkern findet, weshalb alles übersubjektive als Einschränkung des Ichs gewertet wird. Und weil das Ich die entscheidende Instanz ist, wird solcher Einschränkung widerwillig begegnet: Eine verpflichtende Solidarität in Zeiten der Pandemie bedeutet dann Verzicht, ob zwischen der Besitzelite und der Arbeiterschaft, unter Mitgliedern der europäischen Union oder gesamten Weltgemeinschaft. 

 

Damit hoffe ich skizziert zu haben, dass die grundlose Lobpreisung der eigenen Person, wie sie in Zeiten von sozialen Medien allseits präsent ist, möglicherweise eng mit Entwicklungen in der Philosophiegeschichte zusammenhängen könnte. Natürlich kämen noch all die zerstörerischen Ideologien, wie Relativismus, Utilitarismus, Existentialismus oder die gleichgültige Postmoderne hinzu, die ihren Beitrag zum Egozentrismus des Einzelnen, dem ideologischen Relativismus der Wissenschaft und die Selbstaushöhlung der Demokratie geleistet haben, bzw. sich daraus ergaben. Aber sie sind, wie eine Überhöhung der Geschichts- oder Naturwissenschaften (von einer rein beobachtenden Soziologie und hilflosen Psychologie ganz zu schweigen) Konsequenzen, nicht die Ursache. Wer ferner für Demokratie, Solidarität und gemeinsame Krisenüberwindung plädiert, wer an Liebe, Gerechtigkeit und Freundschaft glaubt, sowie des modernen Menschen Unfähigkeit dazu beklagt, der muss sich zunächst der Bedeutungsverschiebungen in der Philosophiegeschichte bewusst werden. Oder kann eine Krankheit geheilt werden, deren Ursache unbekannt oder unberücksichtigt bleibt? 

  


[1] Vgl. Gabriel 2019, S. 124. 

[2] Vgl. Becker 1972, S. 307. 

[3] Summa theologica I-II, q. 91, a. 2 

[4] Vgl. Becker 1972, S. 305-307.

[5] Ebd., S. 310. 

[6] Vgl Moore, 2015, S. 81. 

[7] Ebd., S. 308.

[8] Vgl. Nasr, 1989, S. 41.

[9] Vgl. Marx, MEW 3, 1958,  S. 13.

[10] Vgl. Marx MEW 1, 1956, S. 378.

[11] Vgl. ebd., S. 379.

 

 

Literatur

 

 

Becker, Werner: Dialektik als Ideologie: Hegel und Marx: Eine kritische Betrachtung über Zustandekommen, Sinn und Funktion der dialektischen Methode, in: Zeitschrift für allgemeine Wissenschaftstheorie, Vol. 3, No. 2, 1972: S. 302-328.

 

Descartes, Rene: Meditationen, übers. und hg. von Christian Wohlers, Hamburg: Meiner, 2009. 

 

Descartes, Rene: Discours de la Methode, übers. und hg. von Christian Wohlers, Hamburg: Meiner, 2011. 

 

Gabriel, Gottfried: Grundprobleme der Erkenntnistheorie: Von Descartes zu Wittgenstein, 4. durchgesehene Auflage, Stuttgard: Utb, 2019. 

 

MEW 1: Marx, Karl: Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Erster Band, Einleitung, in: Karl Marx/ Friedrich Engels, Werke, Band 1, Berlin: Dietz Verlag, 1956. 

 

MEW 3: Marx, Karl: Die deutsche Ideologie. Erster Band, in: Karl Marx/Friedrich Engels, Werke, Band 3, Berlin: Dietz Verlag, 1958. 

 

Moore, Jason W.: Putting Nature to Work. In: Cecilia Wee, Janneke Schönenbach, and Olaf Arndt (Hrsg.): Supramarkt: A micro-toolkit for disobedient consumers, or how to frack the fatal forces of the Capitalocene, Gothenburg: Irene Books, 2015: S. 67-117. 

 

Nasr, Seyyed Hossein: Knowledge and the Sacred, New York: State University, 1989.