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Das Schamgefühl als Prüfstein von Willensfreiheit und Klarheit des Urteilsvermögens?

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,,Das bedeutet aber im Umkehrschluss auch, dass ein Mensch, der keine Scham verspürt, nicht einfach schamlos wäre, sondern unfrei. Wenn sich jemand demnach schamlos völlig hemmungslos verhielte, dann nicht, weil er wie bei Nietzsche frei und stark, sondern weil er seine Verfügungsgewalt über sich, sein Urteilsvermögen und seine Entscheidungen verloren hat". 

 

Haben Sie sich einmal Gedanken über die Scham gemacht? 

Was ist Scham? 

 

Vielleicht beginnen wir damit, wie sie auf den Menschen wirkt. Wenn wir einen Friedrich Nietzsche fragen, macht Scham den Menschen handlungsunfähig, so läge ihr Ursprung in der Hilflosigkeit, Schwäche, Bedürftigkeit und Wehrlosigkeit. Gewiss versteht er Scham als eines der gesellschaftlichen Mittel, mithilfe derer der Mensch von seiner wahren Natur entfernt wird: Nämlich ist sie nicht nur ein Ausdruck von Schwäche, sondern hält gleichzeitig den Menschen davon ab, seine wahren Gelüste auszukosten. Sie setzt ihm Schranken, da sie ihm vermittelt: So etwas tut man nicht, so etwas ist entwürdigend. 

Wenn wir seinen Fachkollegen Karl Marx oder den Psychoanalytiker Sigmund Freud fragen würden, ginge es in die ähnliche Richtung. Scham ist einerseits Ausdruck von Hilflosigkeit und Bloßstellung, andererseits etwas, das dem Menschen nicht nur Schranken setzt, sondern ihn davon abhält, er selbst zu sein. Deshalb geht Freud auch davon aus, dass sie erst ab 3 Jahren einsetze, dass sie ein Produkt der gesellschaftlichen Einflüsse ist. Wohl verstehen sie diese auch als Mittel der Gesellschaft, die Individuen an die Normen und Götter der jeweiligen Gesellschaft zu binden und gefügig zu machen.

Zusammenfassend: Scham entmenschlicht, denn sie entfernt von der wahren Natur. 

 

Fragen wir Immanuel Kant, käme die Scham wohl auch nicht besonders gut weg. Er beschreibt die Scham als ein überwältigendes Gefühl, das den Menschen ohnmächtig macht. Scham ist der Umgang mit dem Unvermögen, sich zur Wehr zu setzen. Sie ist also wieder ein anderes Wort für unfreiwillige Passivität. Doch bei Kant hat die Sache noch eine andere Dimension. Im Gegensatz zu den anderen drei Kandidaten will er den Menschen unbedingt zur Moral motivieren. Freilich nimmt Kant ,,unbedingt“ wörtlich: Eine Handlung sei nur dann moralisch, wenn sie aus reiner Pflicht dem moralischen Gesetz gegenüber getan wird, für Gefühle und Haltungen, wie Liebe zum Guten, Güte dem Nächsten oder eben Scham ist da kein Platz. Im Gegenteil: Wer aus Scham eine unmoralische Tat vermeidet, wäre für ihn wohl selbstsüchtig, da es bloß um die Vermeidung des Unbehagens geht. Scham macht also nicht nur handlungsunfähig sondern ist als Gefühl ein Hindernis zur vollständigen Verpflichtung zum moralischen Gesetz, sie ist demnach auch für Kant eine Fessel. Scham entmenschlicht vielleicht nicht, aber sie erstarrt. 

 

Interessanterweise halten verschiedene

Religionen die Menschen dazu, das Schamgefühl zu pflegen. Sie sei etwa ,,ein Schutz des Glaubens“. Klar, würden Nietzsche und Co. antworten, die Scham wäre ja eines der Druckmitteln, mithilfe derer die Religion ihre Herrschaft über die Gemüter der Menschen verschafft und sie damit zu gefolgsamen Dienern mache. Marx würde gar darauf hinweisen, dass die Religion das Programm der Entmenschlichung und Unterwerfung sei. Die eine oder andere Feministin würde wenigstens Nietzsche beipflichtend ergänzen, dass mithilfe des Narrativs einer ,,der Frau geziemenden Scham" Frauen das Patriarchat aufgedrückt würde. Moment, versuchen wir einmal die andere Seite nachzuvollziehen: 

 

Der persische Dichter Dschalāl ad-Dīn Muhammad Rūmī näherte sich vor knapp 800 Jahren anders an die Scham heran. Statt als hilflose Reaktion auf die Handlung eines anderen, betrachtet er sie im Zusammenhang mit den eigenen Handlungen. Er schreibt, dass die Scham ein Zeichen der Freiheit des Menschen sei. Denn der Mensch reagiere beschämt auf eine eigene unschöne Handlung, Wortwahl, Sprache oder Gedanken, weil er wüsste, dass er sich hätte anders verhalten können. Lassen Sie sich die Sinnverschiebung nicht entgehen: Während für Nietzsche und Co. die Scham ein Ausdruck von Hilflosigkeit und Starre ist, resultiert die Scham hier aus einem selbstgewählten Widerspruch. Nicht einfach, weil man im Widerspruch zum Tugendhaften steht, sondern weil man freiwillig sich dagegen entscheidet. Die Scham gründet nicht ihr Dasein, sondern überhaupt ihre Daseinsmöglichkeit auf der Freiheit. Rūmī macht es am Beispiel der Lust konkret. Wenn jene den Menschen z.B. zu einer untugendhaften Handlung drängt - denken Sie an den Ehebruch - und der Mensch der Lust nachgibt, würde er nach der Befriedigung der Lust, wenn der Nebel der Leidenschaft sich verflüchtigt hat und die Klarheit des Verstandes ihn heimsucht, sich seiner Handlung wegen schämen. Denn er wird wissen: Ich hätte der Leidenschaft auch widerstehen können. Es ist also nicht der Ehebruch an sich, sondern es ist der mit freiem Willen begangene Ehebruch, der den Ehebrecher beschämt. Denn weshalb sollte man sich für etwas, wofür man nichts kann, schämen? Was man auch von biblischen Geschichten hält: Ich bin mir sicher, dass eine ähnliche Analogie zu Adam und Evas Reaktion ziehen lässt, als diese den Verlockungen verfallend den Apfel des Übermutes pflücken und im wörtlichen Sinne entblößt da standen. Die Blöße drückt nicht einfach die körperliche Nacktheit aus. Vielmehr bedeutet jeder mit freiem Willen begangene Frevel, sich auf eine Weise zu entblößen. Und weil der Mensch jedem etwas vormachen kann, außer sich selbst, mündet diese Blöße notwendigerweise in der Scham vor dem eigenen Spiegelbild. 

 

Das bedeutet aber im Umkehrschluss auch, dass ein Mensch, der keine Scham verspürt, nicht einfach schamlos wäre, sondern unfrei. Wenn sich jemand demnach schamlos völlig hemmungslos verhielte, dann nicht, weil er wie bei Nietzsche frei und stark, sondern weil er seine Verfügungsgewalt über sich und seine Entscheidungen verloren hat. Freilich ist dies nur die eine Seite der Medaille, die andere ist die Notwendigkeit des Wissens: Ich kann nur frei entscheiden, wenn ich überhaupt die Alternativen kenne und einordnen kann. Dieses Wissen muss nicht unbedingt reflektiert sein, es genügt ein gewisser Sinn dafür. Schauen Sie sich Kleinkinder an, die sich i.d.R. schämen, wenn ein Fremder sie ohne Kleidung sieht oder sie eines falschen Benehmens wegen ermahnt werden. Im ersten Fall wissen sie, dass etwas nicht stimmt, im letzteren, dass sie etwas getan haben, was sie nicht hätten tun müssen. Wenn ein Kleinkind dagegen für etwas ermahnt wird, wofür es nichts kann, reagiert es verständnislos. Ich muss einen Sinn für das Gute und das rechte Maß haben, um das Üble und das Maßlose mit freiem Willen vermeiden oder in Kauf nehmen zu können. Weil auch der Böse im Normalfall von seinem Gewissen geplagt wird, weil i.d.R. jeder auf ungewöhnliche Weise von Schlechtigkeit gezeichnete Mensch eine dem entsprechende Vorgeschichte hat, sowie man dem Menschen das Schlechte irgendwie rechtfertigen muss, etwa wenn gerade mal 50 Flüchtlingskinder in Deutschland aufgenommen werden oder Waffen an Diktaturen verkauft werden, lässt sich schließen, dass der Mensch einen Sinn für das Gute haben muss. Es ist diese Resignation, die etwa Hannah Arendt nach dem 2. Weltkrieg bei den Deutschen beobachtete, der Versuch, mittels vollständiger gefühlsmäßiger Kaltstellung sich der Wahrheit ihrer Taten und damit der Scham zu stellen. Denn: Sie hätten es auch anders machen können. Sie hätten sich nicht korrumpieren lassen müssen. Folgerichtig müssen wir im Umkehrschluss anerkennen, dass ein schamloser Mensch nicht nur bloß unfrei, sondern seinen Bezug zum Guten verloren hat. Sein Sinn dafür, dass etwas nicht stimmt, ist ihm abhanden gekommen.

 

Zusammenfassend: Wenn Scham der Beweis der Freiheit und des ungetrübten Sinnes ist, dann bedeutet das aufrichtige Schämen sich von der Schuld zu befreien: Man ist wieder Herr über seine Sinne und sich selbst. Die Selbstachtung ist stark genug, um sich den Frevel einzugestehen, der Wille stark genug, um ihn auszustehen. 

Wenn Schamlosigkeit der Fluch der Unfreiheit und des verlorenen Sinns ist, dann bedeutet schamlos-zu-sein sich in die Passivität zu flüchten: Man ist nicht mehr Herr über seine Sinne und sich selbst. Die Selbstachtung ist zu schwach, um sich dem Frevel zu stellen, der Wille zu schwach, um ihn ertragen und überwinden zu können. 

 

Wenn Sie in unsere Gesellschaft schauen, von den Idealen der 68er Bewegung bis zu den heutigen, wie ordnen Sie unsere Gesellschaft ein? Gibt es einen Zusammenhang zwischen der als Revolution gefeierten Beschneidung unseres Schamgefühls und der uns von Erich Fromm attestierten Furcht vor der Freiheit? Schwaches Schamgefühl und passives Konsumentendasein?