Vorhang auf, zuhören!
Verehrte Damen und Herren,
hier ist jemand mit ein paar Fragen. Kein schwer zugänglicher Text, keine gedankenakrobatischen Wendungen. Bloß Fragen! Beginnen wir mit der sicherlich einfachsten, auf die Sie als selbstbestimmendes Individuum gewiss eine Antwort haben:
Was ist Freiheit?
Wenn Sie sich nicht der schulterzuckenden Gleichgültigkeit ergeben haben - übrigens wäre ein ,,mir egal" als Antwort auf diese Frage pure Selbsttäuschung, denn wenn man Ihnen Ihr Smartphone gegen Ihren Willen wegnähme, worauf würden Sie sich berufen, wie Ihre Empörung rechtfertigen? Seien Sie gnädig und erklären Sie mir:
Was ist Freiheit?
,,Moment!“ Werden Sie vielleicht entgegnen: ,,Ich bin Bürger einer der wohlhabendsten Demokratien, in der das Recht auf freie Selbstbestimmung im Grundgesetz fest verankert ist. In meiner Gesellschaft sind Individuen so frei, dass selbst der Begriff ,,Tempolimit“ die Leute auf die Barrikaden treibt! Ich besitze die Freiheit, ich bin schon frei, wozu soll ich mir also darüber Gedanken machen?“
Wohl gesprochen! Aber schauen wir genauer hin. Sie sprechen das Grundgesetz an - Vergleichen wir uns einmal mit den Gründervätern der freiheitlich demokratischen Verfassung, die sich
Meinungsfreiheit, Versammlungsfreiheit, etc. hart erkämpften, also einen Preis dafür zahlten. Wenn man nun bei jenen von einer errungenen und gelebten Freiheit spricht, gilt selbiges für uns Nutznießer, die wir auf Kommando Zuhause mit einem Vorrat Klopapier und gedrosselter Netflix Verbindung sitzen?
Sie sprechen vom ,,Individuum“, ich halte das Versprechen des Individualismus für ein Trugbild, mithilfe dessen wir gerade von der Freiheit abgehalten werden. Der Trick ist, zwischen Willkür und Freiheit zu unterscheiden! Wozu wir über Willkür reden müssen? Weil sie offensichtlich in unseren Verständnissen mitschwingt, etwa beim einflussreichen Philosoph Friedrich Nietzsche, der sagen würde: Frei ist, wer sich von jeglichen äußeren Fesseln - dazu zählen auch Moralvorstellungen - befreit und tut, was er will. Unsere verehrten Neoliberalen würden den Freiheitssuchenden an einen entfesselten Markt verweisen.
Was ist diese Willkür, die da mitschwingt? Eine kurze Definition: Willkür bedeutet, zu allem fähig zu sein. Sowohl dem Kind einer alleinerziehenden Altenpflegerin, als auch dem Professorenkind wird die Formel ,,Es genügt, ich zu sein“ mit der Muttermilch verabreicht. Weder Traditionen, noch Sitten, keine Gerechtigkeitsvorstellung hat irgendeine bindende Bedeutung - denn seien wir doch ehrlich: Prinzipien würden mir verbieten, die Fussball WM zu schauen! (Naja, jedenfalls meint das die namenlose Fußball-Näherin aus Bangladesch, die ihr Kind nur einmal im Jahr sehen darf). Und was man aus eigener Kraft nicht schafft, das solle man der Gesellschaft anvertrauen: Die Gesellschaft, wie wir von Hegel lernen, ermögliche schon jedem Individuum, sich zu verwirklichen. Moment!
Ermöglicht die Gesellschaft oder tut sie vorschreiben?
Sie erlaube, jedem sich zu verwirklichen- Überall dieses Gespenst: Selbstverwirklichung. Wenn es aber dieselbe Gesellschaft ist, in der ein bestimmtes Verständnis von ,,Selbst“ und ,,Verwirklichung“ bereits festgelegt ist und vorherrscht, wie viel Entscheidungsfreiheit bleibt da einem Neugeborenen? Wer hat mich gefragt, als man festlegte, dass ein Influencer auf Instagram ein Vermögen mit Produktplacement macht und das in Ordnung ist - weil kreative Selbstverwirklichung - während die alleinerziehende Altenpflegerin zur Tafel muss - weil keine kreative
Selbstverwirklichung? Ist es nicht die Gesellschaft, deren Bildungssystem und öffentliche Meinung der Jugend diesen Zustand als etwas normales und legitimes erscheinen lässt? Wie tolerant werden z.B. Alternativkonzepte diskutiert, kennen Sie die Freiheitsvorstellung des Aristoteles?
Lassen Sie uns gemeinsam bewusst entscheiden und sagen: Jawohl, ich kenne auch andere Freiheitsvorstellungen, aber halte unser Freiheitsverständnis für das beste. Beispiel Aristoteles. Ihm zufolge ist Freiheit nicht willkürlich, sondern verpflichtend. Freiheit ist nicht, haben zu können, was alle anderen haben oder entfesselter Egoismus, im Gegenteil: Freiheit ist, von sich zu lassen. Denn dem Aristoteles zufolge sind die eigentlichen Fesseln die eigenen Leidenschaften und Begehren, die unersättlich seien: Wer sich um die Befriedigung seiner Gelüste bemühe, gleiche einem Hamster im Hamsterrad oder dem Drogenabhängigen: Kaum befriedigt, geht der Kreislauf immer wieder von vorne los. Dagegen seien die objektiven Prinzipien, etwa Gerechtigkeit und Tapferkeit, wirklich und erfüllend: Man steht über den Dingen. Freilich hat dies seinen Preis: Um tapfer sein zu können, muss man sich seinen Ängsten stellen, um gerecht sein zu können, darf man nur nehmen, was einem zusteht und muss geben, was dem anderen zusteht. Daher schreibt auch Aristoteles: Der Freie ist nicht wie der Unfreie - er kann sich nicht dem beliebigen Zeitvertreib und Zerstreuung hingeben, während der Unfreie tun und lassen kann, was er will. Auf der einen Seite also wir, die wir Freiheit in der Ichbezogenheit sehen und deshalb jegliche Tugend, etwa Solidarität oder maßvollen Umgang mit der Natur für Selbstbeschränkung halten, auf der anderen Seite Aristoteles, demzufolge Freiheit im Loslösen vom Ich, vom Ego liegt: Was für uns Verzicht bedeutet, bedeutet für Aristoteles Befreiung. Für uns besteht Freiheit in einer möglichst unbegrenzten Vielzahl von Möglichkeiten, für Aristoteles definiert sich Freiheit im Umgang mit ihnen. Wir müssen uns entscheiden, ob die Freiheit entbindet oder verpflichtet. Was entgegnen Sie auf diese Fragen:
Stellen Sie sich vor, man würde Ihre Rechte massiv einschränken. Zu welchem Preis wären Sie bereit, sich Jahrhundertelang hart erkämpfte Bürgerrechte nehmen zu lassen? Die Antwort des Aristoteles ist klar: Der Freie wankt zu keinem Preis, fürchtet zwar den Tod, hat sich aber von den Fesseln der Furcht befreit: Lieber der Tod in Freiheit als ein Leben in Knechtschaft. Wie lautet Ihre Antwort?
Machen wir es konkret: Zu welchem Preis haben Sie z.B. die staatlich angeordneten Maßnahmen zur Bewältigung der Corona-Krise hingenommen? Aus welchen Gründen widerstrebt es Ihnen?
Wenn ,,Eigentum verpflichtet“, wie das
Grundgesetz meint, kann man da ohne weiteres sagen ,,Freiheit entbindet“?
Oder gleich zurück zum Anfang:
Was ist Freiheit?
Vorhang zu, abtreten!