· 

Leseprobe: Das Fernsehen und das zweiseitige Entfernen

Download
Leseprobe zur Neuauflage von: ,,Komm, Entmenschtes: Lass uns werden...".
Ab dem 16.12.2019 als Taschenbuch überall bestellbar.
Ab dem 06.01.2020 als E-Book überall erhältlich. Zweiwöchiger Aktionspreis: 1,99 Euro.
Leseprobe 2.pdf
Adobe Acrobat Dokument 198.0 KB

Als zwei junge Menschen auf dem Weg zu einem gemeinsamen Netflix-Abend in den Bus steigen, beobachtet der Protagonist sie und macht sich u.a. Gedanken über die Rolle der Sprache und des Fernsehens dabei, scheinbare Selbstverständlichkeiten und passive Konsumenten zu schaffen: Erstere lässt den Schein wirklich erscheinen, letzteres macht aus dem Helden der eigenen, realen Geschichte einen Zuschauer anderer, fiktiver Geschichten. Ein kleiner Abstecher bei Edward Bernays, dem Kopf hinter Public Relations und ein kleiner Seitenhieb, wie Philosophie heute betrieben wird:

 

 

Mittwoch

,,Boa, ich hoffe, wir schaffen es noch rechtzeitig zum Luke!“. Ich werde aus meinen Gedanken gerissen, als ein junger Mann und eine junge Frau in den Bus steigen. Gemeinsam tragen sie einen Bierkasten, in der anderen Hand halten sie die Tüten es guten Gewissens, oder wie sie gemeinhin heißen, Öko-Tüten. 

,,Ach“, winkt die junge Frau mit einem Blick auf ihre Uhr ab: ,,Das schaffen wir bestimmt“. Der junge Mann schüttelt genervt den Kopf: ,,Hätte der das Seminar mal rechtzeitig beendet, hätten wir es auch rechtzeitig geschafft!“. 

Aus der Tüte lugen Süßigkeiten hervor, wäre es nicht so früh - 17.33 Uhr - würde ich meinen, sie gingen zu einer sog. ,,Hausparty“. Ich will mir gerade die Kopfhörer einsetzen, als die Dame meint: ,,Die sollen sich nicht so anstellen und auf uns warten! Das ist doch das Geile an Netflix - ey, dafür liebe ich es auch so sehr - man kann sich frei entscheiden, wann man schauen will“. 

Überrascht hebe ich die Augenbrauen, damit habe ich nun wirklich nicht gerechnet. 

,,Ja, aber du weißt doch, wie der Malte ist…“, meint der Junge verlegen. Das Mädchen fällt ihm energisch ins Wort: ,,Wir zahlen alle einen Anteil des Abos, also…“. 

Es ist eine Sache, dass der hässliche Ausdruck ,,geil“ verwendet wird. Daran hat man sich wohl oder übel gewöhnt, was eigentlich (derbe) übermäßige sexuelle Lust bezeichnet, wird dieser Tage in Bezug auf alles verwendet, das einem wohlge-fällt, selbst wohlschmeckendes Essen. Aber mit Netflix in einem Satz ,,frei“ und ,,liebe“ zu verwenden, das ist zu viel des Schlechten. Ich setze die Kopfhörer ein und betrachte die vielen riesigen Gebäude, an denen der Bus vorbeifährt. 

Mir kommt ein Zitat von Lenin in den Sinn, das einzige, was ich mir von ihm gemerkt habe: Jede Revolution beginnt bei der Sprache. Der unachtsame Umgang mit Sprache äußert sich nicht nur in einer stetigen Verkleinerung des Wortschatzes und der falschen Verwendung von Begriffen, wie man an Schulen und Universitäten sieht, es bleibt auch nicht bloß bei der Flucht in schwammige Fremdwörter, wie man an Politikern und Geisteswissenschaftlern beobachten kann. Ich glaube, dass mit der Verwirrung in der Sprache auch eine Verwirrung im Geist zusammenhängt: Wer sich nicht seiner Wortwahl bewusst ist, dem bleiben auch die Wirkungen und Hintergründe seiner Wortwahl verborgen. Mein Blick fällt auf die beiden Besorgten. Es kommt nicht von ungefähr, unmenschliches, gefühlloses und unwirkliches mit menschlichen, gefühlsmäßigen und gewissermaßen realen Bedeutungswert besitzenden Worten zu beschreiben. Die virtuelle Welt mit solchen Begriffen zu beschreiben, mit denen Teile der sinnlich wahrnehmbaren Welt verbunden werden, bedeutet, die Grenze zwischen virtueller und sinnlich wahrnehmbarer Welt zu verklären. Die virtuelle Welt kann so als Teil der wirklichen Welt betrachtet werden, während jedoch umgekehrt die wirkliche Welt entwirklicht wird: Die Aufwertung des Scheines zieht die Abwertung der Wirklichkeit nach sich. Aber zunächst muss ich die Aufwertung verstehen.

Mir kommt das Interview mit einer Soziologin in den Sinn, in dem es darum ging, wie die Arbeit zum lebensbestimmenden Element werden konnte. Sie meinte, dass die Arbeit solche Dinge, wie Familie, Ehe oder Privatleben nur deshalb ersetzen oder wenigstens sich unterordnen konnte, weil aus einer ehemals als notwendigem Übel verstandenen, aus der lebensermöglichenden Tätigkeit die dem Leben gerade Bedeutung verleihende, die eigene Person entfaltende Selbst-verwirklichung geworden wäre. Denn Formulierungen, wie ,,ich liebe meine Arbeit“ seien neu, Fragen wie ,,Wähle den Beruf, den du lieben kannst“ hätte es vorher so nicht gegeben: Liebe hätte man eher in Bezug auf persönliche, intime Bezüge verwendet, z.B. die Ehe. Diese stattfindende Bedeutungsverschiebung bedeute zwar für die Arbeit Bedeutungsgewinn, für die Ehe jedoch einen Bedeutungsverlust. Mir geht ein Licht auf: Sagt man heutzutage Liebesbeziehung oder Partnerschaft?

Unterdessen kommen wir an einer Bushaltestelle vorbei, an der ein Werbeplakat eines Streaming-Dienstes hängt: Die ersten 30 Tage kostenlos streamen, jederzeit kündbar! 

Ich verstehe, dass dies auch in diesem Kontext gilt. Es ist kein Geheimnis, dass die Werbung bewusst mit Begriffen, wie ,,frei“, ,,liebe“, ,,Glück“, etc. arbeitet, um den Konsumenten an sich zu binden. Dazu braucht man nicht das Buch von Edward Bernays, dem Kopf hinter der PR (Public Relations), zu kennen. Aristoteles würde schon genügen, um zu verstehen, welcher Trick sich dahinter verbirgt. Aber erst seit dem namentlichen Verweis auf Bernays sind es Gedanken, die auszusprechen erlaubt ist. Der Konsument wird emotional angesprochen, es wird an seine Träume und Wünsche angeknüpft, seinen Sehnsüchten eine Projektionsfläche geboten. Auf diese Weise sind die neuen Schuhe nicht mehr bloße Wunschobjekte, sondern sie erscheinen als Grundbedürfnis. Ich runzle mit der Stirn. 

Es sind nicht die Gegenstände…

Es ist ihr Kauf: Auf geschickte Weise pervertiert Bernays des Aristoteles’ Hinweis, dass Menschen mit Ausnahme der Glückseligkeit nichts als Selbstzweck erstreben, sondern sich immer etwas anderes daraus/damit versprechen. Bernays schreibt, dem Konsumenten gehe es nicht um die Ware oder ihren spezifischen Wert, vielmehr stünde sie selbst als ein Symbol für etwas. Mit ihrer Hilfe versuche der Konsument, seine unterdrückten Wünsche und Sehnsüchte zu kompensieren. Das Auto ist nicht einfach Mittel des Transportes, sondern z.B. ein Statussymbol,. Dieses Modell lässt sich übertragen: Die veganen Produkte sollen nicht die Umwelt retten, sondern dem eigenen Handeln eine Bedeutung geben, die Zugehörigkeit zur neuen sinnträchtigen Bewegung gewäh-ren, usw. Bernays ließe sich so zusammenfassen: Aus dem Wünschenden wird ein Bedürfender, aus dem Bürger ein Konsument deformiert. 

Freilich bleibt es nicht bei einer einseitigen Einwirkung, wie wir dank Aristoteles wissen. So passiert nicht nur, dass unwirklichen Gegenstände scheinbar wirklich erscheinen, sondern diese Begriffe im Gegenzug durch die Verwendung in Bezug auf unwirkliche Dinge hohl werden: Wenn ich einen heißen Gegenstand mit einem Kühlkissen etwas kühlen möchte, werde ich in Kauf nehmen müssen, dass das Kühlkissen sich erwärmen wird. Wie also Begriffe mit ihrem Bedeutungsgehalt einem Gegenstand neue Bedeutungszusammenhänge ermöglichen, wird der Gegenstand den Horizont der Bedeutungsmöglichkeiten eines Begriffs entweder schmälern oder ausweiten: Wenn ich mir von Schuhen persönliche Selbstverwirklichung verspreche, wird ,,Selbst“ und ,,Person“ zu etwas, das sich über materielle Dinge profilieren lässt. 

Damit nicht genug. Betroffen sind auch jene Dinge, die man auszudrücken versucht: Wenn ich einen Schokoriegel lieben kann oder ein Energy-Getränk mir Freiheit verleiht, vermag weder die Liebe, noch die Freiheit etwas bedeutsames sein: Sie verlieren ihr Gewicht, erscheinen als etwas, das man leicht und überall erwerben könne. Für Thomas Mann konnte ein Schriftsteller nur ein Schöpfer sein, um ein Schöpfer zu werden, müsse man zuvor gestorben sein. Heutzutage muss man bloß die Marktlogik verstehen. 

Die Serien und Filme können uns nur für sich gewinnen, wenn sie uns bieten, wonach wir suchen. Mein Blick fällt auf die Beiden vor mir, beide nebeneinander stehend, aber vertieft in ihren Smartphones, weil es bietet, was der andere nicht zu bieten vermag. 

Wer selten fernsieht, der verspürt seltener das Bedürfnis, was wiederum bedeutet, dass es sich um zweitrangige Bedürfnisse handeln muss. Denn was wir nur nebenbei wollen, das kann uns nicht so wichtig sein. Wer jedoch regelmäßig fernsieht, der sucht, regelmäßig empfundene Bedürfnisse zu befriedigen. Dann kann es nicht mehr bloß darum gehen, mal einen Filmabend mit der Liebsten zu machen (wovon ich übrigens ganz dringend dieser Tage abrate…). Wird nicht deshalb der regelmäßige Filmabend mit dem Partner als Anzeichen für den Niedergang der Beziehung betrachtet? Der andere scheitert in dem Erfüllen grundtiefer Bedürfnisse und Sehnsüchte so grandios, dass es nicht einmal eines anderen Menschen, sondern bloß eines Gerätes zur Kompensation bedarf. Oder wir hegen Bedürfnisse, die so oberflächlich sind, so dass das Gerät genügt… 

,,Verzeihung, ist der Platz frei?“.

Ich schweife ab. Wie sehr ich dem Typ Geisteswissenschaftler dieser Tage ähnele! 

Wer jedoch regelmäßig fernsieht, der sucht, regelmäßig empfundene Bedürfnisse zu befriedigen. Dies ist eine der beunruhigenden Erkenntnisse. Denn wenn wir bei Aristoteles bleiben und immer die beiden Seiten der Medaille betrachten, muss uns folgendes klar sein: Wie die Beiden vor mir ihre Wünsche, Träume und Begehrlichkeiten projizieren, reflektiert das Fernsehen die Art und Weise, ja die Möglichkeiten dessen auf sie zurück. Ich trage z.B. meinen Wunsch eines zwanglosen und abwechslungsreichen Lebens vor, das Fernsehen bietet mir eine ganze Palette an Möglichkeiten, wie dieses zwanglos und abwechslungsreich aussehen könnte. Unterschiedliche Genres, unterschiedliche Formate, unter-schiedliche Drehbücher. Suchen sie Aufregung und Heldentaten? Das Genre ,,Action“. Suchen sie die Liebe? Romantik! Sind sie überzeugt, dass es keine Liebe gibt? Genügend Serien, die immer dieselben Stationen ablaufen. Wollen sie vor der Realität fliehen und sich dabei etwas klüger fühlen? Science-Fiktion! Sind sie Türken und haben sich von dem Niedergang des osmanischen Reiches nicht erholt? ,,Historische“ Serien! 

Ich wende meinen Blick ab. 

Das Fernsehen beeinflusst unbemerkt, was ich von ,,Liebe“ oder ,,Heldentaten“ halte. Und der unreelle Charakter sorgt einerseits dafür, dass die Dinge selbst für mich unreell werden: Ein Happy End wird zu etwas, das in den kitschigen Hollywood Streifen gehört, während andererseits Dinge für mich selbstverständlich und real werden: Wenn jeder Film davon handelt, wie gierig und böse die Menschen sind, erscheinen die Menschen um mich herum gierig und böse. Und weil es eben so ist, wird es auch irgendwie normal. Wenn jeder Film davon handelt, dass Frauen, wie Freunde Geld und Macht über ,,das Innere“ und Loyalität halten, dann werden Frauen und Freunde für mich zu potentiellen Gefahren. Und weil es eben so ist, wird es auch irgendwie normal. Aus Freundschaft wird eine brüchige Interessenbeziehung.

Die eigentliche Tragödie besteht jedoch darin, dass wir nicht mehr das eigene Leben leben. Entweder verlieren wir den Bezug zum eigenen, entwirklichten Leben, so dass wir mit den Helden in gerade zufällig angesagten Endzeit-Szenarien bei der Weltrettung mitfiebern, der eigenen jedoch mit Schulterzucken begegnen. Wir diskutieren darüber, wieso der Held zum Sieg über die Ungerechtigkeit seine Familie verlassen oder böse Mittel verwenden durfte, während die tatsächlichen Ungerechtigkeiten des wirklichen Lebens unserem Konsumwahn hoffnungslos unterliegen. Oder wir hegen zwar noch immer einen engen Bezug zur Wirklichkeit, aber nicht mehr zu uns selbst. Dann ahmen wir dem erfundenen, unwirklichen Leben erfundener, fiktiver Figuren nach. Nicht Menschen aus Fleisch und Blut sind unsere Vorbilder, sondern von Menschen mit Fleisch und Blut dargestellte Figuren. Kann es denn keine Konsequenzen haben, wenn wir Darsteller dafür anhimmeln, dass sie eine Maske aufsetzen, sich verstellend etwas anderes darstellen? Je besser sie darin sind, desto größer der Applaus: ,,In der Rolle aufgehen“, nennt man das gemeinhin. Plötzlich verliert das Darstellen von etwas anderem, das sich-Verstellen seine anstößige Wirkung. Galt man vorher als authentisch, weil man seiner eigenen Persönlichkeit gemäß sich verhielt, ist man es nun, wenn man am besten die zugewiesene Rolle anzulegen weiß. Der Unterschied: Im ersteren Fall richte ich mich nach meinem eigenen Inneren, im letzteren Fall richte ich mein Inneres nach dem Äußeren. 

,,Wir können ja wohl nix dafür, wenn der Typ vorne länger spricht! Wir sind doch gleich da“. 

Wäre ich ein Philosoph, müsste ich mir bestimmte Aus-drucksformen überlegen, die gehoben klingen und Eindruck schinden. Ich sehe die Beiden an - 

Nennen wir das Fernsehen doch eine zweiseitige Entfernung, die Handlung Fernsehen ein zweiseitiges Entfernen: Zum einen fasst es das Entfernen von der empirischen Welt, zum anderen das Entfernen von der eigenen Person. 

Klingt das philosophisch genug? 

Nein, zu wenig Fremdwörter!

 

 

Dienstag 

Wie jeden Morgen der vergangenen drei Wochen, bringe ich meine kleine Schwester zum Kindergarten. Ich sehe ihren goldenen Locken nach, während ich sie im Wettrennen zur Tür gewinnen lasse. 

Es sind diese winzigen Augenblicke, die ein ganzes Leben rechtfertigen. Dies ist ein Augenblick, der Jahre der Hingabe, Fürsorge und Mühe verpuffen lässt. Mir ist, als hätte die Welt aufgehört, sich zu drehen, als würde die Sonne aufhören, unterzugehen und die Nachtigall nie mehr verstummen - als würde dieser Augenblick mich sanft tätscheln und versichern: Die schwarzen Wolken werden sich verflüchtigen, das silberne Mondlicht wird schon bald schimmernd mir den Pfad weisen. 

„Erster!“, triumphiert sie. Ich beuge mich zu ihr herunter und streichele ihr eine Strähne aus dem Gesicht. 

Die Zeit ist ein unerbittlicher Strom, dem sich nichts entziehen kann. In ihm entsteht, gedeiht und vergeht. Ein Strom, der vergessen macht, dass alle Tage gezählt sind. Vielleicht versuchen wir deshalb überall gleichzeitig zu sein, hasten von einem Ort zum nächsten, um sagen zu können: Ich bin da! Ich erlebe etwas Besonderes, ich tue etwas Besonderes, ich besitze etwas Besonderes, ich bin etwas Besonderes. 

Doch nicht jetzt, nicht hier. 

Hier, in diesem Augenblick, würde ich gerne verweilen.