· 

Die Aufklärung als der Beginn der Veräußerlichung des Menschen und der Sinnentleerung des Guten?

Download
Als PDF Datei.
Die Aufklärung als der Beginn der Veräuß
Adobe Acrobat Dokument 94.3 KB

 

,,Stellen Sie sich vor, ich wäre ein Mensch, der hungert. Erklären Sie mir doch: 

Wozu soll ich gut sein?“

 

Sowohl im öffentlichen, wie auch im privaten Bereich lassen sich auf unterschiedlichen Ebenen krisenhafte Zustände feststellen. Da ich im letzten Beitrag einiges über den Klimawandel schrieb, lasse ich dieses offensichtlichste Zeichen innerlicher Verrohung beiseite. Auch bzgl. der Demokratie ist die Liste lang: Während Arendt bereits vor Jahrzehnten repräsentativen Demokratien sowohl die demokratische, als auch die politische Qualität abspricht, weil z.B. des Wählers Aktivität auf den Gang zur Wahlurne begrenzt würde und der Repräsentant zu einem reinen Interessenvertreter verkomme, bezweifelt Pitkin gar, dass postmoderne Staaten und Gesellschaften überhaupt noch demokratiefähig seien. Spätestens die politische Praxis und die jüngsten Umstände, etwa die Verrohung der Sprache und das Erstarken antidemokratischer Tendenzen, veranlasste auch Levitsky und Ziblatt zu ihrem Buch ,,Wie Demokratien sterben und was wir dagegen tun können“. Dass undemokratischer und machthungriger Lobbyismus ebenso zur Praxis von NGO’s gegen Kinderarbeit und Zwangsprostitution gehöre, wie Hahn und Holzscheiter in einer Studie von 2013 zeigen, verwundert kaum mehr. 

Doch auch im sozialen Bereich stellen wir trotz Aufklärung, Individualismus und wachsendem Wohlstand alarmierende Entwicklungen fest: Eine rasant steigende Vereinsamung führt etwa dazu, dass es in England einer Einsamkeitsministerin bedarf oder Unternehmen mit Cafés für Einsame (,,Chatty Cafés") neue Geschäftsfelder erschließen, Depressionen zur zweitgrößten Volkskrankheit werden sollen und der zunehmende Rückzug in die virtuelle, unwirkliche Welt dafür sorge, dass selbst die Lust an sinnlichen Freuden Studien zufolge bei jungen Menschen der Lust auf Serien unterläge. Von der Altersarmut und menschenunwürdigen Behausungen, vom Nationalismus ganz zu schweigen. Stellen Sie sich vor: Wir leben in einem System, in welchem der Mensch in der Rolle des Konsumenten ungemeine Macht besitzt, die er in einer Zeit nach dem Humanismus, Aufarbeitung und 70-Jahre Grundgesetz dazu nutzt, z.B. die Fifa gegen die Näherinnen von Bangladesch, die Zivilbevölkerung in Brasilien und die Sklavenarbeiter in Qatar zu bemächtigen. 

 

Frage: Beginnt das Problem vielleicht an der Wurzel unseres Denkens? 

Zunächst einige Festlegungen. Jedes Denken, jedes gesellschaftliche, politische Konzept und jedes Urteil baut auf bestimmten Grundsätzen auf. Ein voraussetzungsfreies Denken gibt es nicht, deshalb ist selbst eine unreflektierte Meinung das Ergebnis eines Prozesses: Wenn wir äußerlich etwas wahrnehmen, sei es eine Debatte, z.B. um die Rentenreform oder ein Begriff, wie Demokratie oder Seele, treffen diese auf die von uns bewusst oder unbewusst vorausgesetzten Grundsätze. Die jeweilige Meinung ist der Folgesatz des Zusammenspiels von Grundsatz und äußerer Wahrnehmung, wie auch die Stärke der Brillengläser maßgeblich die Einschätzung des Gesehenen bestimmt. Wir halten also fest: Jedes Denken, usw. ist das Ergebnis einer Gleichung: Die einen Variablen fassen, was wir voraussetzen, die anderen, womit wir konfrontiert werden. Die ersten Grundsätze bergen unser Verständnis von ,,Mensch“ und „Gott“: Ob Sie den Menschen als seines Nächsten Wolf verstehen oder als das Ebenbild Gottes, hegen Sie ein biologisches oder ein geistiges Menschenbild, irgendein Verständnis setzen sie voraus. Und dieses Verständnis ist wesentlich, denn Sie können z.B. nur Demokratie gut heißen, wenn sie davon ausgehen, dass Menschen z.B. trotz äußerer Einflüsse selbstständig eine Meinung bilden, Meinungsunterschiede ertragen und bedenken können, kompromissbereit sind, usw. Auch die Existenz einer Gottheit abzulehnen, bedeutet, die Variabel ,,Gott“ zu besetzen. Darwinisten z.B. setzen natürliche Prozesse an seine Stelle. 

Philosophie verstehe ich als die Reflexion der Grundsätze an einem bestimmten Maßstab. Lassen Sie es mich an ein paar Beispielen verdeutlichen: 

Bis zu den Aufklärern selbst, verbanden Philosophen ihr Denken mit einer Reflexion der Grundsätze ihres Zeitgeistes und ihrer Vorgänger, bevor sie in wechselseitigen Bezug zur jeweiligen gesellschaftlichen Realität traten. Sokrates hat dafür mit dem Leben bezahlen müssen und Robespierre hat andere dafür mit ihrem Leben bezahlen lassen. Aristoteles weist dem Staat die Ermöglichung von geistiger Vervollkommnung des Menschen aufgrund eines bestimmten Menschenverständnisses als Zweck zu, auf gleiche Weise kommt Machiavelli zu seinen realpolitische Forderungen oder Hobbes zu seinem ,,Leviathan“. In der Moralphilosophie begründen Darwinisten mit Verweis auf die menschliche Natur und den biologischen Charakter der an Gottes Stelle getretenen natürlichen Prozesse, dass unsere Moral- und Wertesysteme nichts als Versicherungen zum biologischen Überleben seien.

 

Wenn das stimmt, ist es von großer Bedeutung, dass wir unsere Grundsätze hinterfragen: Was verstehen wir unter ,,Mensch", wie kommen wir dazu? Denn dieses Verständnis bestimmt von Beginn, welche Bedeutungsmöglichkeiten wir z.B. dem Begriff ,,Gerechtigkeit" gewähren.

Einen aus meiner Sicht weitreichenden Wendepunkt finden wir in einer Stelle aus den Diskursen des Rene Descartes'. Ich schrieb, dass unser Denken wesentlich u.a. auf unserem Verständnis von ,,Gott“ und ,,Mensch“ baut. Dabei ist es nicht nur von Bedeutung, ob es für Sie Gott gibt oder nicht, sondern von mindestens gleicher Tragweite ist, w i e Sie das Verhältnis der beiden zueinander bestimmen. Meine These lautet, dass die Veräußerlichung dieses Verhältnisses gemäß Descartes den aufklärerischen und utilitaristischen Geist in seiner radikalsten Form erst möglich machte. Er schreibt nämlich, dass wir einen barmherzigen Gott aus zwei Gründen bräuchten: 1.) Als von Gott geschaffene Wesen, stünden wir im Akt der Schöpfung mit dieser von jeglicher Kausalität unabhängigen Instanz in Bezug. Somit seien wir wenigstens in unserem Ursprung irgendwie mit Objektivität verbunden und unser Denken, folglich auch unsere Existenz, nicht völlig beliebig. 2.) Weil Gott barmherzig sei, könnten wir darauf vertrauen, dass er nicht als böser Geist daran Gefallen fände, uns umherirren zu lassen. Mit anderen Worten: Wir bräuchten den barmherzigen Gott als Ausgangspunkt, um nicht zu ,,ewigen Irren“ verdammt zu sein. Das ist die entscheidende Grundlage, um sein ,,Ich denke, also bin ich“ als ein absolut sicheres Urteil zu ermöglichen. Aus meiner Sicht entgeht jedoch den meisten Analysen etwas, nämlich: Die Gott-Mensch, Mensch-Gott Beziehung kennt mit Descartes keinerlei Qualität, sie ist rein auf den Schöpfungsakt begrenzt. Mit ,,Qualität" meine ich, was wir 

bei Meister Eckhard ,,Alliquid est in anima quod est increatum et increabile“, 

im Vedanta der Hindus (Brahma satyam, Jagan mithya, Jivo brahmaiva naparam), 

in verschiedenen Suren des Korans (z.B. 15: 29) oder 

theologisch und philosophisch-politisch bei Thomas v. Aquin (z.B. ,,Summa theologica I-II“) oder

Ibn Rushd (Kommentarwerke zum Aristoteles, ,,The Harmony between Religion and Philosophy“ u.v.m.)

finden. 

Sie alle vereint: Etwas göttliches ist im Menschen, das Meister Eckhard ,,Seelengrund“ und Thomas von Aquin ,,Einstrahlen des Lichtes der göttlichen Vernunft“ nennt, welches in uns wirkt und uns ermächtigt, Moralität, Freiheit oder Liebe nicht bloß als äußere Scheinetikette zur Wahrung der biologischen Spezies ,,Homo Sapiens“, sondern als dem Menschen zugedachte Qualitäten zu begreifen. 

 

Jedenfalls beginnt mit Descartes eine Entwicklung der Veräußerlichung, an dessen Ende die ,,Gleichgültigkeit“ steht, an welcher ein Großteil der modernen Gesellschaften zu kranken scheint. Sei es einer älteren Dame im Bus, generellem Fehlen von Fürsorge für ältere Generationen, den eingangs genannten Krisen, etwa die Ignoranz der Umweltausbeutung oder vom Konsumenten bemächtigten Konzernen gegenüber. Selbst den Prognosen, dass Depressionen zur zweitgrößten Volkskrankheit wachsen würden, lässt sich entnehmen, dass womöglich der Gleichgültigkeit für den Menschen die Gleichgültigkeit Gott gegenüber voraus ginge, wie es nicht nur alle Religionen nahe legen, sondern auch Philosophen, wie z.B. Erich Fromm, wenn dieser sagt: 

Auf das Jahrhundert ,,Gott ist tot“, folge das Jahrhundert ,,der Mensch ist tot“. 

Auch das sich auf Bildern zur Schau aus-stellen, zähle ich hinzu, wenn ich behaupte:

Weil der moderne Mensch meint, keine innere, geistige Qualität zu bergen, folgt eine innerlich empfundene Gleichgültigkeit sich selbst gegenüber. Der vorgebliche, materialistische Narzissmus, der nur durch den Arbeitserfolg oder die Bewunderung und den Neid der anderen befriedigt wird, ist das bedauerliche Kleid einer gebeutelten Selbstverachtung. Freilich ist der Narzissmus nichts als die verzweifelte Sehnsucht nach Geltung, nach der Versicherung, dass die eigene, sinnentleerte Existenz nicht völlig beliebig und damit willkürlich austauschbar sei.

 

Josef Piper behandelt das Motiv der Gleichgültigkeit und spricht von einer 

,,Gleichgültigkeit dem Guten gegenüber“, 

weshalb Ideale, wie Tapferkeit u.ä. zu etwas Hohlem würden. Selbst die Liebe ist für uns nichts, was im Angesicht des Geldes überstehen könnte. Das Verständnis von Ehen als Zweckgemeinschaften, Mann und Frau als Team, sei indes realistisch. In diesem Kontext könnte auch die Notwendigkeit von moderner Ethik als Folge der Gleichgültigkeit für das Gute verstanden werden: Während eine Ethik im aristotelischen Sinne noch von Sokrates’ Ausspruch im Gorgias ausgeht: 

,,Unrechtleiden ist besser und nützlicher als Unrechttun“, d.h.: Gut handeln aufgrund der Qualität ,,gut“, welches nur möglich ist, wenn der Mensch in Beziehung zu solchen Qualitäten stehen kann, 

gilt in der modernen Ethik: Ethisches Handeln birgt für den Menschen keinen qualitativen, greifbaren Nutzen, sondern jenes bedeutet im Gegenteil einen Verzicht. 

Kants kategorischer Imperativ, man solle tun, was man als allgemeine Handlungsanweisung wollen könne, 

die goldene Regel, man solle tun, was man auch selbst ertragen wolle 

oder der pure Pragmatismus, Moral für eine stabile Ordnung, 

vereinigen alle auf unterschiedliche Ausdrucksweisen zwei Prinzipien: 1. Moralisches Handeln = Nachteil, weil es meist den Verzicht auf etwas verlangt. Kant hält in seiner Kritik der praktischen Vernunft fest: Der Mensch könne nur glücklich werden durch die Gewährleistung einer ununterbrochenen Befriedigung seiner sinnlichen Begierden. Deshalb, damit wären wir beim 2. Prinzip, nämlich beim Geschäft vom Geben und Nehmen, bedarf es z.B. für Kant den Gott, der verspricht, die aus moralischem Handeln resultierenden, irdischen Nachteile durch jenseitige Vorteile auszugleichen. 

Sokrates und Thomas v. Aquin, Shankara und ibn Rushd, Denker aus unterschiedlichen Zeiten und Traditionen, würden dagegen sagen: Das Streben nach dem Guten liegt in unserer Natur, d.h. aus dem guten Handeln folgt die befriedende innere Harmonie, während Unrechttun in einer inneren Disharmonie mündet, die weder durch materielles, noch körperliches Wohl sich ausgleichen ließe. 

 

Allerdings sind wir von Kant weit entfernt, von Sokrates ganz zu schweigen. Der Qualitätsverlust äußert sich nämlich mittlerweile darin, dass wir einfach das Kriterium ,,gut" durch ,,richtig" ersetzt haben: Nicht tun, was gut ist, sondern richtig handeln. Dabei wissen wir: Richtig ist relativ, denken Sie an eine mathematischen Aufgabe: Richtig ist ein Ergebnis, wenn es der Aufgabenstellung entspricht. Steht vor Ihnen 2 und 2, so ist =4 nur richtig, wenn sie multiplizieren oder addieren sollen. Lautet die Aufgabenstellung dagegen 2:2, ist das Ergebnis 4 falsch. Auf diese Weise konnte es auch innerhalb der nationalsozialistischen Ideologie richtig sein, jüdische Menschen aufgrund der ihnen zugeschriebenen Merkmalen auf die möglichst effizienteste Weise zu beseitigen, niemals kann aber diese Geißelung der Menschlichkeit g u t sein.

Wie auch immer: Die moderne Ethik versucht vergeblich, den Menschen einen Grund zum gut Sein zu geben, weil sie aus sich selbst heraus keinen dazu finden.

Deshalb bleiben die Bemühungen eines Philosophiestudenten unfruchtbar: Frage ich nach dem Grund, nach dem Sinn von Moralität, ist es meist Sentimentalität, die den philosophisch-logischen Schluss einer Verwerfung solcher ,,Ideale“ verhindert, wie wir sie in Jean-Paul Sartres ,,Der Ekel“ oder aber Janne Tellers hervorragender Parabel ,,Nichts. Was im Leben wichtig ist“ finden. 

 

Wie könnte es auch anders sein: Kann die biologische Natur, von der wir doch alle entstanden seien, tatsächlich Würde hervorbringen? Sicherlich, das Dogma, Menschen hätten tausende Jahre vor Darwin geglaubt, das Vorhandene wäre wie durch Fingerschnipsen geschaffen worden, ist eine Verneinung der vielen Vorgänger der (umstritteneren und in vielerlei Hinsicht unlogischen) Evolutionstheorie gemäß Darwin und eine radikal verfälschende Vereinfachung von Philosophien und Theologien der Vormoderne. Wir halten jedoch daran fest, denn: Was bleibt von Moral, von Menschenwürde? Ist vielleicht die Tatsache, dass wir tief im Innern den Glauben an derlei verloren haben, der Grund, weshalb wir fortwährend vage bleiben und in unseren ,,realistischen“ Erwägungen jene geistigen Begriffe nicht beachten? 

Kann die rigoros auf dem Gesetz der Kausalität beruhende Natur, tatsächlich Freiheit ermöglichen? Wenn dagegen das Leben irgendwie doch durch Zufall nach/mit dem Urknall entstanden sei, sind wir dann nicht alle beliebig? 

Wenn es völlig natürlich ist, dass nur die Stärksten überleben, wozu solidarisch sein? Wenn es uns einzig ums Überleben geht, wie kann da sich mehr als gemeinsame Interessenverbundenheit entwickeln, etwa Mitgefühl oder wieso zerstören wir die Natur und werten damit unseren Konsumbedürfnis höher als unseren Überlebensdrang? 

Wenn wir rein auf körperliche Fortpflanzung und körperliche Lust aus sind, wieso werden wir im Zeitalter der sexuellen Vergnügungsindustrie und Promiskuität nicht satt, sehnen uns weiterhin nach Zärtlichkeit und Innigkeit, nach Liebe und geistiger Verbundenheit?

Kann es geistige Ideologien und geistige Illusionen dort geben, wo es keine geistige Wirklichkeit gibt? 

Machen wir es anders: 

Stellen Sie sich vor, ich wäre ein Mensch, der hungert. Erklären Sie mir doch: 

Wozu soll ich gut sein?