
,,Der Weg zur Freiheit ist der Weg zu sich selbst, ein beschwerlicher Weg mit Hindernissen und Grenzen - wir sollten ihn antreten, koste es, was es wolle. Denn verliert der Mensch den Anschluss an diesen Weg, verliert er den Anschluss zu sich selbst“.
Kürzlich wurde ich gefragt, warum die Menschen tatenlos zusehen, wie der Neoliberalismus die Demokratie und den Sozialstaat, während der Materialismus den Menschen selbst aushöhlt. Wieso nehmen Unzählige als Bürger einer demokratischen Ordnung ihre Partizipationsrechte nicht wahr? Wieso fühlen sich so viele Menschen ohnmächtig, warum glauben sie nicht mehr an Freiheit im eigentlichen Sinne?
Es hängt u.a. damit zusammen, dass das Versprechen des modernen Individualismus eine Illusion ist, mit der ihr Gerechtigkeitsbewusstsein und Wille zur Freiheit eingeschläfert wurde. Um das zu verstehen, ist es zunächst wichtig, zwischen Willkür und Freiheit zu unterscheiden.
W i l l k ü r bedeutet, zu allem fähig zu sein, vom Gesetz von Ursache und Wirkung unberührt zu bleiben. Die Konsequenz ist zum einen der Irrglaube, dass die persönlichen und äußeren Umstände in Bezug auf die eigenen Möglichkeiten keine Rolle spielen würden, zum anderen der Anfang der Entmenschlichung, nämlich, dass jede Entscheidung (und damit jedes Handeln) beliebig, folglich sinn-entleert wird: Alles sei rückgängig zu machen, alles sei möglich, folglich beliebig. Würde und Feigheit, Gerechtigkeitssuche und Verrat hinterlassen damit, wenn überhaupt, bloß vorübergehende Spuren, wahre Ideale erscheinen in Gestalt haltloser Luftschlösser. Es ist also eine Welt der inhaltlosen Formen, der unbeseelten Körper: Keine Substanz, keine Wahrhaftigkeit.
Und weil die Natur des Menschen keine Willkür erlaubt und schon das Faktum des Gewissens dem Selbstverständnis als ein unbeseelter Körper widerstrebt, ist jeder Versuch, ihn irgendwie mit einer solchen Welt in Bezug zu setzen, ein verheerender Anschlag auf seine Menschlichkeit und sein inneres Gleichgewicht.
F r e i h e i t dagegen verheisst nicht, zu allem fähig zu sein oder keine Konsequenzen tragen zu müssen. Freiheit bedeutet im Gegenteil, trotz der Konsequenzen sich für etwas entscheiden zu können: Den Weg mit all seinen Beschwernissen zu meistern. Die Möglichkeit zur Freiheit liegt gerade deshalb in der Natur des Menschen, weil sie die ihm eigene Unvollkommenheit und Abhängigkeit von den äußeren Umständen berücksichtigt, gleichzeitig jedoch die Natur des menschlichen Willens wahr-nimmt, kraft derer der Mensch seine äußere Realität gemäß der inneren Wirklichkeit richten kann. Ein anschliessendes, aus Freiheit geschehendes Ent-scheiden, bedeutet, sich von der Furcht vor der Konsequenz nicht einschüchtern zu lassen und damit die Seele vom Joch der Feigheit zu scheiden.
Jenen, die meinen, dies klänge abstrakt oder realitätsfern, entgegne ich: Anders, als das geistige frei-Sein, äußert sich das praktische frei-Handeln in einem Vielen möglichen Rahmen:
Das praktische frei-Handeln äußert sich nicht darin, dass das Kind einer alleinerziehenden Krankenschwester der nächste Bundeskanzler werden oder mit einer gewinnträchtigen Idee die Klasse wechseln kann, sondern jenes realisiert sich, wenn ein Bahnbediensteter um seines Gerechtigkeitswillen wegen, sich, trotz der durch die mediale Berichterstattung verzerrten öffentlichen Meinung, für den Streik entscheidet, bis er einen Kompromiss erreicht, den er für gerecht hält, unabhängig von der öffentlichen Meinung.
Was hat das mit dem modernen Individualismus zu tun?
Der moderne Individualismus besänftigt uns mit ersterem, statt letzteres zu ermöglichen. Mit dem hegelianischen Versprechen, die Gesellschaft würde jenen Raum schaffen, in dem die Individuen sich verwirklichen könnten, geschieht Folgendes: Die Konsequenz für die Kleinen ist das Selbstbewusstsein einer gescheiterten Existenz, was wir an den fortlaufend steigenden Zahlen an Depressionskranken und Anhängern extremistischer Positionen sehen. Interessanterweise tasten diese Gruppen nicht die profitierende Besitzelite an (Beispiel Afd), sondern die Nächstschwächeren, d.h. die Minderheiten. Denn wer zur Unterschicht gehört, sei selbst daran Schuld, die obere Schicht dagegen hätte sich ihre Stellung selbst verdient. So mache es auch keinen nennenswerten Unterschied, ob man aus einer bildungsfernen oder Akadamikerfamilie komme, unser Bildungssystem ermögliche (z.B. durch verschiedene Bildungswege) allen gleichermaßen mehr oder weniger eine akademische Ausbildung. Die Menschen werden dabei von den Schaltstellen rein materiell betrachtet: Wenn die Rechnung auf dem Konzeptpapier aufgeht, würden die Menschen im Großen und Ganzen schon danach funktionieren.
Und nur auf das ,,mehr oder weniger“, auf das ,,im Großen und Ganzen“ komme es an.
Das Versprechen des modernen Individualismus lautet demnach: Die Gesellschaft ermögliche jedem Individuum, sich zu verwirklichen. Dieses Dogma ist verinnerlicht worden, weshalb die Zivilbevölkerung zu einer Masse verkommen ist, die es zulässt, dass Dieselfahrverbote in Hamburg nur für die Autos der breiten Bevölkerung gelten, während Kreuzfahrtschiffe mit de facto unsinnigen Argumenten aus der Debatte genommen werden. Diese entwaffnete Masse lässt zu, dass Manager horrende Summen als Bonusprämie ausgezahlt bekommen oder keine Erbschaftssteuer eingeführt wird, während alleinerziehende Krankenpfleger auf die Essensausgaben von sog. ,,gemeinnützigen Wohltätigkeitsorganisationen“ (z.B. ,,die Tafel“) angewiesen sind und im Land der schwarzen Null Altersarmut eine Alltagserscheinung ist. Gleichzeitig ärgert sich die selbe Masse über jegliche Zuwendung an Arbeitslose oder Flüchtlinge, denn hier gilt das Prinzip in umgekehrter Weise (s.o.). Was könnte auch von einer Gesellschaft erwartet werden, welche ein in seinem Selbstbewusstsein gescheitertes Kollektiv verkörpert?
Was wir folglich sehen: Statt den Menschen das Leben und Wirken des freien Bürgers einer demokratischen Ordnung zu ermöglichen, kommt ihnen das Selbst-Initiative-Ergreifen, oder eine solche Aufgreifen, abhanden. Die kleinen Teile werden davon abgehalten, die vorherrschende Ordnung in ihren Grundelementen anzuzweifeln: Wir beklagen nicht, dass die Initatio fehlte, sondern vielmehr, dass die Menschen sie nicht mehr wahrnehmen können. Sie gleichen einem Ertrinkenden, der den Rettungsring zwar zugeworfen bekommt, ihn jedoch nicht greift. Wozu auch: An ihm ist nichts, das es zu retten gilt. Hinzu kommt, dass, weil der Raum i n n e r h a l b der Gesellschaft ausreiche, die Menschen sowohl von politischem Engagement, als auch von der Lösungssuche und Orientierung a u ß e r h a l b ihrer scheinheiligen Lösungsmöglichkeiten und bodenloser Ideale abgehalten werden. Es ist gar nicht möglich, wirklich anders zu sein, weil das ,,Wie" des ,,anders“ bereits von der Gesellschaft an reflexionsunfähige Schatten-individuen vorgegeben ist. Wer ,,anders“ sein will, findet sein Vorbild z.B. in der selben Kulturindustrie, wie derjenige, der ,,normal“ sein will. ,,Anders sein“ äußert sich nun in persönlichen Interessen, die nicht zwischen Moral und Unmoral unterscheiden. Wo jedoch nicht unterschieden wird, da verschwimmen die Grenzen. Folglich hat man einen Raum geschaffen, in dem Gegensätzliches nicht nur miteinander koexistieren kann, ohne sich aneinander zu reiben, sondern den Gegensatz als Selbstzweck begreift, wodurch der ,,Gegensatz“ entschärft wird. Deshalb erfordert es auch keine Harmonie zwischen Theorie und Praxis - der Widerspruch ist kein Widerspruch mehr, die Forderung nach Übereinstimmung zwischen Sprechen und Handeln ist zu einer sinnentleerten Phrase verkommen.
Das Ergebnis ist eine Gesellschaft aus funktionierenden Individuen, welche den Glauben an die Freiheit, und damit letztlich an sich selbst verloren haben. Sie sind bloß sinnentleerte Schattenpersönlichkeiten, welche die von der Gesellschaft vorgegebenen Rollen übernehmend, bestimmten Mustern folgen. Wie der Linke zu sein hat, der Religiöse oder der Konservative, ist vorgegeben. Eine solche Gesellschaft produziert gezielt künstliche Gegner, die sie, statt zu eliminieren, in ihrem Denken und damit sich praktisch äußerndem Protestieren kontrolliert - sie sind schließlich lediglich die Realisierung bestimmter, zuvor entworfener Prototypen. Potentielle Tendenzen, den von der Wurzel faulenden Baum zu entwurzeln, entstehen gar nicht erst. Auf diese Weise teilen die verschiedenen Gruppen in Wahrheit die selben Grundprinzipien, so wie Sozialismus und Kapitalismus beide ganz in marxscher Manier auf dem Grundprinzip des Materialismus basieren.
Jedoch wissen wir: Jede Protestbewegung, die nicht wirklich den Rahmen antastet, bedeutet keinen grundlegenden Wandel, sondern bloß einen neuen Anstrich.
Eine solche Gesellschaft gleicht einer angeschwollenen Blase, wenn sie platzt - und das wird sie - bleibt nichts haltbares zurück, auf dem gut und gesund wieder aufgebaut werden kann.
Der Weg zur Freiheit ist der Weg zu sich selbst, ein Weg mit Hindernissen und Grenzen - wir sollten ihn antreten, koste es, was es wolle. Denn verliert der Mensch den Anschluss an diesen Weg, verliert er den Anschluss zu sich selbst.