Liebe seriösen Medien,
erneut werden wir von ,,ismen“ überschwemmt. Einem Geschwür gleich sitzt die Krankheit des Nationalismus in unseren Gesellschaften fest und breitet sich stetig aus. Wer bietet Lösungen an? Wer kann erklären, warum wir es, trotz eines Jahrhunderts unvergleichlichen Leides, nicht los werden? Von dem derzeitigen politischen Personal ist nichts zu erwarten.
Schauen wir also weiter, was tun unsere Philosophen? Sie bleiben sich treu und fehlen, jetzt, wo wir sie eigentlich brauchen. Wenn sie mal sichtbar sind, dann werfen sie mit philosophisch klingenden Sätzen und Buchtiteln um sich, statt konkrete Antworten zu liefern. Warum wir Philosophen brauchen, erkennen Sie daran: Nationalismus ist ein Geschwür, doch nicht die eigentliche Wurzel. R a s s i s m u s ist eine Ableitung des Nationalismus und die Steigerung von P a t r i o t i s m u s, soll heißen: Wenn wir uns gegen den Rassismus wenden, dann wenden wir uns allenfalls gegen das sich bereits ausgeprägte Geschwür, wir können eine Ausprägung davon vielleicht verhindern, doch es wird in einer anderen Form erneut auftreten. Wir bekämpfen also nicht das eigentliche Problem, bloß eine Folge. Fragen Sie den Nachwuchs der Identitären Bewegung: Statt Nationalismus benutzen sie Patriotismus. Manuel Neuer ist kein Rassist und hofft dennoch auf Spieler, die stolz wären, das deutsche Nationaltrikot zu tragen. Ebenso ist Alexander Gauland kein Nazi.
Betrachten wir doch mal den Nationalismus. Dieses wenige Jahrhunderte alte Übel baut auf einer bestimmten Herangehensweise an den Menschen. Man fixiert sich auf äußerliche Merkmale, welche diese
oder jene Identität bescheinigen, d.h. die eigene Identität gründet sich auf äußeren Unterschieden. Und wann wird der Fokus auf Äußerlichkeiten gelegt? Wenn innere Werte aus dem Blick verloren
werden. Denken Sie an blinde Menschen: Weil das Sehvermögen ausfällt, gewinnen die anderen Sinne an Bedeutung. Die Wahrnehmung jener verschärft sich und umso mehr verlässt sich ein Blinder z.B.
auf sein Hörvermögen. Es ist also berechtigt zu fragen: Sind wir vielleicht auf eine Weise erblindet, so dass wir angefangen haben, mehr und mehr, in einem Jahrhunderte andauerndem Prozess des
gesellschaftlichen Wandels, einander anders wahr zu nehmen? Aus der evolutionären Psychologie kennen wir z.B. den Ausdruck der ,,Symboltradition“, demzufolge Muster, nach denen Menschen mit
bestimmten Emotionen auf z.B. Ereignisse reagieren, genetisch weitervererbt werden können: Wonach die Mutter unbewusst Ausschau hält, bevor sie mit der Emotion „Angst“ oder „Zuneigung“ reagiert,
danach würde das Kind ebenfalls Ausschau halten. Nur durch Reflexion fände Veränderung statt. In unserem Fall: Wir bewerten Menschen nicht nach
Kriterien, wie noblem Charakter oder ihres Sinns für Gerechtigkeit. Als Ergebnis fragt unsere Jugend nicht mehr: Was ist das Gute, was bedeutet das Menschsein? Im besten Falle bekommt mein
Lehrervater über Tugenden zu hören ,,Ja, schön und gut - aber was haben Sie davon?“, in der Regel aber ,,Ach, Menschen sind viel zu materialistisch für so etwas“. Nicht tiefsinnige Gedichte über
die Vereinigung oder Sehnsucht zweier Liebenden werden gelesen, sondern pornographische Inhalte oder ähnliche Wertvorstellungen vertretende Musikvideos und Filme gehören zu unseren
meistkonsumierten „Kultur"gütern. Wenn ein Mensch auf die Frage nach dem Nutzen schönen und gerechten Verhaltens nicht die bewusste Antwort ,,Ich verkörpere die wahre Bedeutung des Menschseins“
zu geben weiß, verwundert es etwa, dass er anfällig für eine Klassifizierung nach äußerlichen Merkmalen ist?
Nun könnten einige aus dem Feuilleton darauf hinweisen, dass schon Aristoteles zwischen den Edlen und den Barbaren unterschiede. Vorsicht! Aristoteles verstand unter einem Edlen nicht bloß einen Helenen, sondern einen Menschen mit einem freiem Willen, fähig zur universalen Liebe und strebend nach Gerechtigkeit, kurz den ,,Hochherzigen“. Außerdem lebte er vor mehr als 2000 Jahren und nicht in einer knapp 50 jährigen Einwanderungsgesellschaft, die keine sein will.
Nun, liebe seriösen Medien, warum schreibe ich an Sie? Obwohl Streaming Portale wie Netflix den öffentlich-rechtlichen Sendern die jungen Generationen ablaufen, die vermeintliche Zeitung ,,Bild“ mit Abstand die höchsten Absatzzahlen in einem stetig schrumpfenden Metier verzeichnet und nahezu die Hälfte der deutschen Medienlandschaft in wenigen Zusammenschlüssen konzentriert wird (z.B. Funke Mediengruppe oder DuMont), hoffe ich auf Sie. In diesem Brief soll es um einen Grund gehen, nämlich, dass Ihre Leserschaft (noch) viele Lehrer und andere entscheidenden Berufsgruppen (wie z.B. aus Kultusministerien) fasst, d.h. Menschen, die erheblichen Einfluss auf die Unterrichtsinhalte und deren Vermittlung üben. Tagebuch-Romane, die auf wahren Begebenheiten beruhen, wie ,,Darf ich vorstellen... Das Tagebuch von Arman Migrationshintergrund“, liefern einen erschreckenden Bericht (hier am Beispiel eines Gymnasiums) über den Alltag an unseren Schulen. Den Schülern wird nicht beigebracht, zu hinterfragen und tiefsinnig zu denken, stattdessen werden sie zu konkurrenzfähigen Akteuren auf dem Berufsmarkt gedrillt. Der Flüchtling ist für die Ü50 Generation wegen seines Aussehens fehl am Platz, für die U30 ist er es, weil er dem Markt nicht genügt. Stundenlanges Pauken, um in kürzester Zeit so viel wie möglich auswendig zu können, nur um nach der Abiturprüfung das meiste aus dem Ethikunterricht geistig zu Schreddern. Dass die Frage nach dem Menschen allem weiteren zu Grunde läge, ist keine kantische Meinung, sondern eine universale Wahrheit. Üben Sie Druck aus, damit Adornos Forderung umgesetzt wird: Die Erziehung mündiger Bürger. Die Bildung soll nicht wirtschaftliche Qualifikation bedeuten und auch nicht effizient sein, sondern die Grundlagen für Persönlichkeiten mit Überzeugung und dem Willen zur Umsetzung legen.
Liebe seriösen Medien: Informieren Sie über das, was wichtig für die geistige Entwicklung einer nach dem Guten strebenden Gesellschaft ist, aber auf eine tiefsinnige Weise, nicht nach dem Credo, die einsamen Mitglieder eines makroökonomischen Marktakteurs unterhalten zu müssen. Die Jugend ist die Zukunft dieses Landes, doch damit Aufarbeitung wirklich etwas bringt, müssen sie bewusst reflektieren können. Es wird ohne Philosophen nicht gehen, also halten Sie Ausschau nach solchen, die benennen und um der Sache willen wirken. Vielleicht haben wir dann in dreißig Jahren einen Kapitän, der statt Stolz für ein Emblem, Solidarität mit den namenlosen Näherinnen aus Bangladesch fordert.