Oberflächlich betrachtet genügen historische Fakten (z.B., faktisch 12 Jahre NS-Regime, 41 Jahren DDR, die erste deutsche Kanzlerin erst 2005, dagegen erste türkische Regierungschefin bereits 1993) oder gegenwärtige Beispiele (12 Prozent Afd Wähler, ein sich zu Victor Orban bekennender Seehofer oder das mehrheitlich muslimische Indonesien mit Gleichberechtigung von Mann und Frau) um zu belegen, dass weder Demokratie ein deutscher Wert ist, noch der Islam oder östliche Herkunft selbstverständlich zur Frauenunterdrückung führen.
Warum fragt niemand: Was geschieht, wenn wir eine demokratische Gesinnung als ein Merkmal nationaler Herkunft begreifen?
Es führt erstens zu einem privilegierten Selbstverständnis, welches die eigene Sensibilität für den Willen und Möglichkeit anderer zur Demokratie schwächt: Griechenland wurde trotz extrem steigender Jugendarbeitslosigkeit in die Abhängigkeit Chinas gespart und as-Sisi, der in Ägypten per Militärputsch den demokratisch gewählten Mursi absetzte, von Sigmar Gabriel bestätigt und gelobt.
Universale Merkmale als nationale Merkmale zu verstehen, bedeutet zweitens, sie anzupassen. Wenn Deutschland nicht demokratisch zu sein hat, sondern die Demokratie bereits auf eine Weise deutsch ist, wird ihr gesetzgebender Charakter relativiert: Die deutsche Demokratie ist eben deutsch, so dass sie sich theoretisch von dem ursprünglichen universal gültigen Wesen der Demokratie und empirisch von der amerikanischen oder französischen unterscheidet. Auf diese Weise erscheinen undemokratische Praktiken zwar problematisch, aber werden nicht völlig ausgeschlossen:
Den Bürgern bieten die vermeintlich demokratischen Prozesse kaum Möglichkeiten zur Partizipation? Große soziale Missstände in Pflege und Rente? Der Einfluss undemokratischer Elemente besonders im Zuge von Digitalisierung nimmt zu? Das ist mit Demokratie im eigentlichen Sinne nicht vereinbar, aber in unserem Kontext bloß problematisch: Wichtig ist auch nicht, ob es wo anders besser funktioniert, wichtig ist, ob es mit deutscher Demokratie vereinbar sei. Und je länger die Missstände bestehen bleiben, desto selbstverständlicher, d.h. ,,deutscher“ werden sie.
Nun gibt es eine seltsame Ironie: Während die Möglichkeiten des Bürgers sinken, steigt proportional der Einfluss des Volkswillens. Lassen Sie es mich an einem Beispiel illustrieren:In der Geschichte der USA gab es immer extrem antidemokratische Autokraten mit hoher öffentlicher Zustimmung (z.B. Henry Ford besonders 1918-1923, George Wallace besonders 1964), aber erstmals 2016 wurde ein solcher Präsident. Der Unterschied: Damals hatte sich die USA nach der Demokratie zu richten, so dass Parteien auch entg e g e n der öffentlichen Meinung antidemokratisch eingestellte Kandidaten am politischen Rand hielten. Denn Amerika hatte demokratisch zu sein, nicht andersherum.
Damit wären wir bei der eigentlichen Bedeutung von Demokratie: Teilhabe des
Volkes unter indiskutablen demokratischen Bedingungen, nicht Politik als reiner Ausdruck des Volkswillens. Wenn Demokratie folglich als Zustand, statt als bereits vorhandenes Merkmal verstanden wird, so befindet das System sich in einer ständige Bewährungsprobe: Es muss sich um die Erhaltung dieses Zustandes bemühen und sich fortlaufend beweisen, statt als solche zu gelten.
Fazit: Demokratie, Freiheit oder das Recht auf Selbstbestimmung ist nicht nur niemals deutsch, sondern sie darf auch nicht als eine solche verstanden werden, auch nicht das Bekenntnis zu ihr:
Fazit: Selbst eine demokratische Gesinnung ist nicht nur niemals deutsch, sondern sie darf auch nicht so begriffen werden. Wir müssen uns an die Demokratie anpassen und ihr widerstreitende Tendenzen ausschließen, statt solchen den Zugang zum öffentlichen Diskurs zu gewähren. Trotz Stimmenverlust dürfen die Parteien niemals ihre Rhetorik anpassen. Andernfalls verlieren wir unsere Sensibilität für die Grenze zwischen realer Demokratie und bloß demokratischer Fassade. Der ältesten Demokratie Südamerikas, Venezuela, wäre mit hoher Wahrscheinlichkeit Hugo Chavez erspart geblieben, wenn Ex-Präsident Caldera als etablierter Politiker dessen antidemokratisches Gebaren nicht salonfähig gemacht hätte. Demokratie hat Konsequenzen, eine davon: Wer an ihrem Diskurs teilhaben möchte, muss ihre Regeln ohne Ausnahme akzeptieren.
Empfehlung: Steven Levitsky und Daniel Ziblatt (2018): ,,Wie Demokratien sterben“, München: Random House.